Übergrößen hängen bekanntlich in jedem Kleidergeschäft irgendwo auf dem Ständer, denn die Großen und Dicken brauchen auch etwas zum Anziehen. Doch wie ist es, wenn der Verkäufer auch die Mittelgroßen und Nicht-so-Dicken damit beglückt? Denen bleibt dann nichts anderes übrig, als die Brust zu blähen und die Muskeln anzuspannen, damit die Kleider nicht um die Knochen schlottern. Manchen gelingt’s, manche sehen darin nicht besonders gut aus.
Dasselbe Phänomen konnte man nun auch in Donaueschingen beobachten. Mehrere Komponisten hatten die Möglichkeit erhalten, eine ganze Konzertdauer von einer Stunde und mehr mit einem einzigen Werk auszustatten. Eine doppelbödige Veranstalteridee, großzügig und heimtückisch zugleich. Das Angebot dürfte für jeden Komponisten verlockend sein, obwohl er vielleicht insgeheim Angst hat, dass ihm dabei die Puste ausgehen könnte. Außer er schaltet auf Autopilot und lässt einfach minimalistische Strickmuster abschnurren, doch das war zum Glück beim Donaueschinger Experiment nicht der Fall. Als furchtlose Ausnahme in Sachen Überlänge wäre übrigens Wolfgang Rihm zu erwähnen, der bekanntlich damit nie ein Problem hatte.
Das bewies er schon 1977 mit seiner „Musik für drei Streicher“ und bekräftigte es auch vor drei Jahren in Donaueschingen wieder mit seiner fast einstündigen „Séraphin“-Sinfonie. Was ist daraus zu schließen? Der Bau großer Formen, wie sie auch immer aussehen mögen, hängt wohl primär vom individuellen Kunstvermögen ab und ist keine Frage von historischer Notwendigkeit beziehungsweise Unmöglichkeit, obwohl einige Theoretiker das einmal behauptet haben.
Beim Spezialfall der Sinfonie sieht das indes ein wenig anders aus. Sie war die repräsentative Großform in der Instrumentalmusik des bürgerlichen Zeitalters. Das Bürgertum sah in ihr seine eigene Weltanschauung gespiegelt, doch mit seinem Niedergang als kulturtragende Schicht und seinem Ersatz durch die Geldelite wurde auch die sinfonische Form zum Problem. Trotzdem sind wir aus ihrem Schatten bis heute nie ganz herausgetreten. Komponisten von Schostakowitsch und Sibelius bis zu Peter Maxwell Davies und, in ihrem Gefolge, zahlreiche Jüngere haben nach Wegen gesucht, um die alte Form mit neuem Leben zu erfüllen. Sie entwarfen neue weltanschauliche Perspektiven, brachten Naturgesetze ins Spiel oder nutzten die große Form einfach als Projektionsfläche ihrer eigenen Subjektivität, die nur noch für sich selbst und nicht mehr für eine gesellschaftliche Allgemeinheit sprechen wollte. Damit stellt sich die Frage, ob die von ihrer historischen Substanz entleerte Sinfonie noch einen musikalischen Sinn ergibt. Die große Form war einst Ausdruck einer entsprechend großen Idee. Doch die Zeit großer Ideen ist in Europa abgelaufen. Es geht nur noch um abstrakte Größen; politisch manifestiert sich das im verwaltungstechnischen Konstrukt namens EU und musikalisch in diesem Fall als Vorgabe einer inhaltsleeren Zeitstrecke. Daraus entstehen bestenfalls noch individuelle Versuchsanordnungen mit entsprechend begrenztem Bedeutungshorizont. Wir sind bescheiden geworden.
Womit wir wieder bei den Donaueschinger Übergrößen wären und bei den wackeren Versuchen der Komponisten, in die zu großen Kleider hineinzuschlüpfen. Die Resultate waren erwartungsgemäß sehr unterschiedlich. Während der eine wortreich von „Maschinen als Strukturgeneratoren“ sprach und damit doch nur das sinnentleerte Imitat einer Sinfonie von Bruckner‘scher Länge zustandebrachte, machte ein anderer aus dem Bruchstückhaften seines Opus magnum keinen Hehl und reicherte es mit tiefsinnigen Texten an, die die Problematik beleuchten sollten. Ein dritter beschwor mit Chor, dräuender Elektronik, viel Schlagzeug und Blech die Urgeschichte der Menschheit. Überlegter handelten diejenigen, die das ohnehin illusionäre Ganze in Einzeltableaus aufteilten und diese wiederum kunstvoll miteinander verknüpften.
Große Form als Ausdruck einer inneren Notwendigkeit wird zum Abenteuer für Komponist und Publikum. Aber als Veranstaltervorgabe? In Donaueschingen wirkte das ein wenig wie die Aufforderung zum Absolvieren einer abgesteckten Teststrecke. Immerhin hatte es auch eine sportliche Komponente, und es wurde deutlich, wer über den längeren Atem verfügt. Als Erster ging übrigens ein Raucher ins Ziel.