Seit Walt Disney und Leopold Stokowski zusammen ihren „Fantasia“-Film produzierten, in dem erstmals in der Musikgeschichte Werke von Bach bis Strawinsky auf fiktionale Weise mit publikumsträchtigen Bildern kombiniert wurden, hat sich in der Wahrnehmung der klassischen Musik etwas fundamental verändert. Der epochale Film, von den Klassikfreunden bis heute als populistische Entgleisung verhöhnt, markiert den Bruch mit dem seit der späten Wiener Klassik gültigen Konzept der absoluten Musik und damit auch den Abschied vom Konzertsaal als Ort der säkularisierten, bürgerlichen Musikreligion. An dessen Stelle tritt das Kino, wo der Ton aus dem Lautsprecher kommt und Musik und Bild sich zu einem neuen audiovisuellen Gesamtkunstwerk verbinden.
Die Visualisierung von Musik in den technischen Medien gilt bis heute vielen Klassikhörern als suspekt – sie fürchten die Ablenkung durch allerlei optischen Firlefanz, was ja tatsächlich der Fall sein kann, und möchten solche medialen Neuerungen, die längst keine mehr sind, am liebsten auf den Unterhaltungssektor beschränkt sehen. Doch Popularisierung von E-Musik durch das Fernsehen – nein danke! Dabei haben führende TV-Sender seit Jahrzehnten zahllose, von profunder Sachkenntnis getragene Klassikfilme produziert, die vermutlich mehr zu einer qualifizierten Vermittlung von musikalischem Wissen beigetragen haben als ganze Regale voller Konzertführer. Die exzellente, bei Arthaus auf DVD erschienene Dokumentation „Music in the Air“ über die Geschichte des Musikfilms von Reiner E. Moritz hat das gerade wieder einmal eindrucksvoll vor Augen und Ohren geführt.
Besonders hartnäckig hielt sich das Bilderverbot in jener Variante der Neuen Musik, die sich als Fortsetzung der „absoluten Musik“ des 19. Jahrhunderts verstand: bei der Wiener Schule und ihren seriellen Nachfahren im Nachkriegs-Darmstadt. Die hybriden Experimente des „Instrumentalen Theaters“ in den 1960er-Jahren, die teilweise auch technische Medien einbezogen, fristeten damals nur einer Randexistenz. Doch die zunehmende Einbeziehung technischer Geräte in das Komponieren musste zwangsläufig zu medialen Grenzüberschreitungen führen. Mit den heutigen Möglichkeiten des Computers ist der Moment erreicht, da eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Bild und Ton obsolet geworden ist. Im Extremfall sind die beiden Dimensionen einfach nur noch unterschiedliche Erscheinungsformen ein und derselben Rechenoperationen, und zum Umschalten braucht es bloß ein paar Klicks am Laptop.
Bei den diesjährigen Donaueschinger Musiktagen war zu beobachten, wie weit diese technischen Möglichkeiten inzwischen gediehen sind. In den Ensemblekonzerten gab es genuin audiovisuelle Produktionen – Werke, in denen Bild und Ton zu einer Einheit verschmolzen. Den zumeist sehr jungen Musikern ging es ums große Ganze: Verzerrungsfilter ein, Lautstärke hoch, Bild und Musik an/aus. Mit Heavy Metal-Wut im Bauch wurde am Struktur-Tabu gerüttelt. Eine neue Generation machte Tabula rasa mit den Vorstellungen von struktureller Differenziertheit und bediente sich dabei der am Markt erhältlichen Software. Das war eine klare Absage an das quasi-wissenschaftliche Forschen, wie es die Avantgarde alten Stils betrieben hat. Die Devise lautete: Wir nehmen die vorhandenen technischen Mittel und machen damit Musik.
Insofern hatte Donaueschingen 2012 durchaus Züge einer Consumer-Messe. Die Komponisten als Endverbraucher machten euphorisch Gebrauch von den vielfältigen technischen Möglichkeiten und demonstrierten das dem Publikum auf vitale, gelegentlich auch naiv-spaßige Weise – eine Art digitales Musikantentum, das sich im Umgang mit dem Klang- und Bildmaterial durch kontrollierte Spontaneität auszeichnete.
Was durchaus seinen Reiz hatte. Doch interessant wäre jetzt, da die Bresche geschlagen ist, den Weg weiterzugehen und die Verschmelzungsprozesse von digitalisiertem Bild und Ton auf der Ebene qualifizierter Strukturarbeit weiterzuführen, ohne das Publikum zu langweilen: „Versuche machen, beobachten, was den Eindruck hervorbringt und was ihn schwächt, also verbessern, zusetzen, wegschneiden, wagen“, wie einst ein experimenteller Komponist sagte, der wie kein Zweiter das bewusste Hören in sein Recht setzte und dazu nicht einmal einen Computer brauchte. Der Mann hieß nicht Cage und nicht Stockhausen, sondern Joseph Haydn.