Ein „Begriffsunglück“ nannte Claudia Roth seinerzeit die „Leitkultur“-Debatte. Der neu gewählte Bundestagspräsident Lammert wagte dennoch, sie wieder aufzunehmen. Eine breit angelegte öffentliche Diskussion will sich nicht anschließen, denn der Begriff „Leitkultur“ stößt nach wie vor auf Ablehnung. Der Diskussionsbedarf, der hinter dem Begriff steht, wurde anlässlich einer Tagung des Deutschen Musikrates (die NMZ berichtete) deutlich. Eine „Leitmusik“ aber will niemand formulieren.
„Leitbilder“ aber sind in deutschen Firmen zur Zeit höchst angesagt. Brauchen wir nicht auch „Leitplanken“ fürs Kulturleben, die das „Eigene“ definieren im aktuellen „Einwanderungsland“ Deutschland? Sitzt das Schreckensbild der Überfremdung im Nacken einer Nation, die ihre kulturellen Werte selbst nicht ausreichend formuliert? Der anstößige Begriff einer „deutschen Leitkultur“ übrigens wurde abgeleitet von dem der „europäischen Leitkultur“. Und den erfand 1998 ein syrischer Schriftsteller, der sich mit Merkmalen gelungener Integration beschäftigte. Sollten wir uns davor nicht mit Recht fürchten, denn welcher Art wäre dann alle andere Kultur, die offiziell nicht leitet? Etwa „entartet“, oder auch nur weniger schätzenswert? Wir haben aufgrund der Geschichte Recht, uns davor zu fürchten.
„Europäische Leitkultur“ klingt für deutsche Ohren schon entspannter, und sie existiert erkennbar, auch anderswo. In China kommt das Klavierspielen der Klassiker derart in Mode, dass man die gedrillten Kinder inzwi-schen davor schützen möchte. Während in Berlin der Multikulti-Bär auf den Tischen tanzt, erobern Tangotänzer Tübingen, niederländische Blockflöten kommen aus Brasilien und bayrischen Hoagascht (eine Art der Stubnmusik) macht man mit dem Hackbrett, einem Instrument, ursprünglich aus dem alten Persien. Uralte kultur- und musikgeschichtliche Tatsachen sind das doch, die Mischung machts: Identität wird belebt und manchmal sogar wiederbelebt durch den Kontakt mit dem Fremden. Brauchen wir da eine Leitkulturdebatte, um unsere lieben Migranten-Nachbarskinder zu integrieren? Falls sie das wollen. Es darf nicht hingenommen werden, wenn Mädchen ohne Kopftuch von Einwandererkindern als minderwertig betrachtet werden. Das aber ist häufig der Fall. Man stelle sich vor, diese Kinder würden von Anfang an musikalisch miteinan-der auf eine Stufe gestellt, träten in Wettbewerb und Kommunikation miteinander auf einem religiös und geschlechtsspezifisch neutralen Gebiet. Musik als Medium der Kommunikation reißt schließlich Menschen aus den ihnen bekannten Rahmenbedingungen: Emotionalität, Präsenz, Bewunderung und Hilflosigkeit, Grenzen und Grenzensprengen durch Lernerfahrungen, da wo Ratio und Worte nichts mehr ausrichten. Standen sie schon einmal im Ensemble an einem Instrument, das sie nicht beherrschten? Möglicherweise würde die Verachtung islamischer Jugendlicher andersdenkenden Gleichaltrigen gegenüber beim Musikmachen sinken, wenn scheinbare Sicherheiten weichen, weil kulturspezifische Floskeln, Strukturen und Identitätsmerkmale ausgetauscht und gegenseitig gelernt werden. Ein schöner Traum? Wir wiederholen die Erkenntnisse der Neurologen: Auf Tonfolgen reagiert das Hirn nahezu identisch, wie auf gesprochene Sätze. Musik stellt sich somit als Kulturen kommunizierendes „Leit-Medium“, wenn man so will, an sich dar. Warum sollte unser Land, das sich per Gesetz jüngst als Einwanderungsland definierte, diese Ressourcen nicht nützen?
Eine „Leitkulturdiskussion“ sollte, wenn, dann andere Fragen stellen als bisher, und sie könnte mit weniger Nervosität uns selbst gegenüber geführt werden. Allerdings: Der Zugang zu einem dauerhaften, fordernden und fördernden lebendigen Umgang mit musikalischem Material ist in unserem Bildungssystem eben zur Zeit gar nicht mehr möglich. Er aber könnte Kindern heute helfen, stabil zu werden und konstruktive Antworten zu finden im Wirrwarr der Einwanderungsgesellschaft. Warum gelingt es nicht, kreativer Kommunikation mit Musik grundsätzlich einen entsprechenden Stellenwert in der Schule einzuräumen?
„Klassische Musik“ bleibt ein Erkennungsmerkmal des Bildungsbürgertums, weil sie umfassend in den Schulen nicht vermittelt wird. Auch nicht als eine handwerkliche Grundlage für Jazz, Folk, Pop, Rock, Ethno, Rap und alle anderen Gattungen, die vielleicht leichter zu handhaben sind und ebenso Identität bilden. Wer Musik lernen will, muss das in der Regel teuer bezahlen, man muss sie sich eben leisten können, die „Leistkultur“, diese Definition ist deutlich.
Musikalische Faszination und Auseinandersetzung könnten langfristig einladen, weiterzumachen, offen zu bleiben, wenn die Fronten zwischen „Multikulti“ und „Ausländer raus“ endlich den Tatsachen eines „Einwanderungslandes“ Platz machen und Musik als Medium ganz gezielt genützt würde. Ja, man darf Musik „benützen“, wenn es um Fragen der menschlichen Kommunikation geht, sie ist viel mehr als ein einmaliges Kulturgut, Musik ist Kommunikation. Das wissen selbst hochbezahlte Profis manchmal.
„Jeden Tag gibt es in Norwegen Schulkonzerte. Sechs Wochen im Jahr widmen sich Profi-Musiker in Norwegen diesen Touren durch die Schulen“, lobt Peter Schulze, Leiter des Berliner Jazz-Festivals ein Beispiel aus Skandinavien: „Die Aktivität führt dazu, dass in Norwegen das Musikleben boomt. Dagegen sieht es in Deutschland so aus: Wir haben eine Medienwelt, die immer enger formatiert wird. Diese Sorte von Formatierung in den Medien ist eine absolute Respektlosigkeit gegenüber der Produktion von Kunst.“ Dennoch, gibt es nicht musikalische Schülerprojekte von Künstlern auch in Deutschland ? Sie werden zur Zeit landauf, landab laut gelobt, ein bisschen zu laut, um nicht als Renommierprojekte, als singuläre Blüten in einer Trockenperiode durchschaut zu werden. Man denke nur an das gelungene Schüler-Tanzprojekt der Berliner Philharmoniker, dem andere Orchester folgten. Was kommt danach?
Christian Höppner, Generalsekretär des Deutschen Musikrates weist darauf hin, dass diese Events Einbahnstraße bleiben, weil keine weiterführenden Angebote da sind: „Die Kinder haben musikalisch Hunger bekommen – und stehen vor verschlossenen Musikschultüren.“ Zu teuer, geschlossen, abgeschafft!
Lesen Sie auch den Leitartikel der aktuellen „politik und kultur“ März-April 2006: „Nachdenken über Leitkultur“ von Norbert Lammert