Bei einem Symposion über „Musik und Ökonomie” der Münchner Gesellschaft für Neue Musik im März wurde der Begriff kapitalistischer Realismus ins Feld geführt, um Tendenzen heutigen Schaffens vor allem in angloamerikanischen Ländern und seiner Verwertung zu umreißen. Er stellte ein Pendant zum sozialistischen Realismus her, der die parteipolitischen Eingriffe auf die künstlerische Produktion in den Staaten des sowjetischen Einflussbereichs in der Stalinzeit (und auch noch danach) umriss. Die These wurde geäußert, dass der ökonomische Zwang auf dem freien Markt ähnliche Resultate zeitigt, wie dies in autoritären Staaten unter dem verordneten Begriff der Volksnähe der Fall ist. Ohne dies zur argumentativen Deckungsgleichheit zu verbiegen, darf man darüber nachdenken.
Bekannt ist, dass Mitte der dreißiger Jahre in der Sowjetunion größere Ausrichtprozesse stattfanden, von denen auch der Komponist Schostakowitsch betroffen war. Er hatte gerade seine vierte Sinfonie abgeschlossen, als ihn die parteigesteuerte Kritik ereilte, die sich an seiner Oper „Lady Macbeth von Mzensk” entzündet hatte und sich sogleich auch auf das neue Orchesterwerk stürzte. Schostakowitsch zog das Werk vor der Uraufführung zurück. Mit seiner Fünften gab er, man mag sich darüber streiten, ob dies real oder nur zum Schein der Fall war, der Doktrin nach. Sie ist fraglos fasslicher, weniger dissonant, sie ist stärker formal gebändigt und gehorcht zumindest äußerlich tradierten sinfonischen Prinzipien. Das Werk wurde bei seiner Uraufführung mit großem Überschwang gefeiert, Schostakowitsch, so befand man, saß wieder im gemeinsamen Boot.
Bei uns zeigt man sich empört ob solcher Praktiken der Beeinflussung, denn die Hebel der Macht konnten bis zur Zerstörung der Existenz, ja sogar bis zur Verfolgung und Ermordung des Künstlers gehen. Dennoch muss verwundern: Das Werk, das von der Partei als Rückkehr auf den richtigen Weg betrachtet wurde, ist auch im Westen und heute noch die am meisten gespielte Sinfonie von Schostakowitsch (die verfemte vierte Sinfonie erklingt dagegen so gut wie nie). Das Mäntelchen, dass ja in der Fünften der geheime Widerstand zwischen den Zeilen stehe (und im allzu insistierenden Pathos des Schlusses unüberhörbar sei), wirkt so, als müsse man diese Tatsache verbrämen. Die Werke, die unter Stalin als formalistisch abgelehnt wurden (also zum Beispiel die der Schönberg-Schule und andere Modernismen) und die im Dritten Reich als entartet galten (dito) führen auch in heutigen Konzerten eher ein Randdasein. Die Kompositionen aber, die damals durchgingen, füllen auch heute noch die Konzertsäle. Was damals unter gesundem Volksempfinden firmierte, regelt heute der freie Markt, die Quote. Die Überschneidungszone jedenfalls ist sehr groß. Die Frage, was hieran nicht stimmt, darf, ja muss gestellt werden. Es ist ein Nachdenken über unsere Position.