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Moritz Eggert am Klavier. Foto: Hufner
Moritz Eggert am Klavier. Foto: Hufner
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Mitten im Leben

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Absolute Beginners 2020/03
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X: eine typische junge Kompositionsstudentin oder ein junger Kompositionsstudent (soweit man bei diesem Fach „normal“ sein kann). So sieht ihr/sein Tag aus: Der Wecker hat nicht geklingelt, Handy-Akku war leer. Erste Prio­rität am Morgen: Ladekabel finden, Kaffee, dann in der Nähe der Steckdose frühstücken, um E-Mails, Whatsapp, Messenger, Instagram, Snapchat und Threema zu checken.

Die neuesten „Ultimate Classical Music Fail“-Videos angeschaut, da die News-App mit ihren Nachrichten vom Corona-Virus und der Wahl in Thüringen gerade die Laune verdorben hat. Kurz im Klassenchat gefragt, was heute alles an Unterricht ansteht bzw. ausfällt. Schnell den Laptop eingepackt, dabei aber den Stick mit den neuesten Datenfiles des aktuellen Kompositionsprojektes vergessen. Gerade noch die S-Bahn gekriegt. In der S-Bahn neue Folge der Netflix-Lieblingsserie geschaut und gleichzeitig auf Facebook gesurft (bei den langweiligen Stellen).

In der Hochschule angekommen, den Kommilitonen in der Cafeteria auf dem Handy Aufnahmen vom letzten Klassenkonzert gezeigt, zusammengefasst in einem drolligen Video. Etwas später Live-Chat mit Kompositionslehrer darüber, wie das aktuelle Stück jetzt weitergehen könnte. Dann Small Talk: Diskussion über das neueste Bad Blog – Video, das man sich gemeinsam anschaut. Danach weiteren Unterricht besucht und die dabei verlorene Zeit genutzt, um wieder YouTube-Videos anzuschauen, zum Beispiel das, wo Fazil Say so lus­tige Grimassen zieht. Plötzlich Nachricht von Y: „Was machst Du gerade?“. Heimlich ein Foto vom Unterricht gemacht und Y geschickt: „Ich sitze hier in Tonsatz und langweile mich“. „Krass“. „Was machst Du denn heute?“ „Ich geh zum Klassenkonzert bei Z. Kommst Du mit“. „Kein Bock, muss dringend mein Stück fertigschreiben“. „Staunen (Emoji), wolltest Du das nicht schon längst fertig haben?“ Währenddessen gleichzeitiger Chat mit U, V und W – Formenlehre fällt aus, Dozent krank. Mehr Zeit zum Komponieren!

S-Bahn nach Hause genommen und sich an den Computer gesetzt. Während der Computer hochfährt schnell ein Bild von sich gemacht und auf Instagram geteilt mit der Unterschrift „Finally: Composing Time!“. Lustige Animation dazu erstellt: Baby Yoda, der auf ein paar Noten herumtanzt. Das wird bestimmt viele Likes bekommen! Minutenlanges Starren auf den Bildschirm. Wie könnte das Stück weitergehen? Vielleicht wäre es cool, wenn das Fagott jetzt ein Multiphonic spielen würde? Aber welches? Schnell bei Google geschaut unter „contemporary bassoon multiphonics charts“. Eine Stunde recherchiert, auf welcher Seite die besten Hörbeispiele und Grifftabellen zu finden sind. Kann man vielleicht einfach die Grifftabelle kopieren und in die Partitur einfügen anstatt sie mühsam als Grafik zu erzeugen? Geht irgendwie nicht. Im Handbuch nachgeschaut, wie das gehen könnte. Nach einer Stunde – unterbrochen von eingehenden Nachrichten von Q, R und S sowie einer ausführlichen Beratung per Facetime und dann Skype durch T – endlich herausgefunden wie es geht. Grafik ist nun eingefügt, aber wie klingt der Multiphonic eigentlich in echt?

Vielleicht das Originalsample verwenden und in Audacity mit der MIDI-Simulation kombinieren? Könnte funktionieren. Zwischendrin Nachricht von Amazon im Browser: „die neuesten Sonderangebote“. Nachricht von Google News, Keyword „Corona“: „Heilmittel gefunden?“? Ein paar Stunden gesurft, während immer neue Nachrichten im Postfach angezeigt werden. Demo endlich fertig, Ergebnis: wenig spektakulär. Vielleicht doch was anderes? Ein bisschen auf YouTube in Morton Feldmans 6-Stunden-Streichquartett hineingehört, um sich inspirieren zu lassen. Alle zehn Minuten kommt im Video Werbung für eine Dating-App, die man wegklicken muss. Mist, es ist schon Abend. Nach der anstrengenden Arbeit weiteres Foto gemacht: der Baby Yoda tanzt auf einem Notenständer herum unter der Zeile „Tomorrow is another day to be a compositorian“. Im Klassenchat nachgeschaut, was alles sonst noch so passiert ist an diesem Tag. Vielleicht noch ein bisschen Playstation daddeln? Idee: „Was Du heut nicht kannst besorgen, das verschieb doch ruhig auf morgen“. Geiler Spruch, gleich geteilt. Nun ist wohl Zeit für Tinder – Kompositionsstudenten führen ein so einsames Leben!

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