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Nachschlag 2012/02

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Na was denn nun?
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„Schwindsucht im Parkett – Die Zeit läuft“, betitelt der Deutsche Musik­rat Heft 4/11 seiner Zeitschrift MUSIKforum und Chefredakteur Christian Höppner fragt im editorial auf Seite 1: „Wer gewinnt den Wettlauf um den letzten Konzertbesucher?“ Bevor aber der ebenso gespannte wie besorgte Leser die durchaus gewichtigen Beiträge zum Thema erreicht, stößt er in den nachrichten (S. 4) auf einen Widerruf. Das Ergebnis des 9. Kulturbarometers des Zentrums für Kulturforschung in Kooperation mit der Deutschen Orches­tervereinigung (DOV) lautet nämlich: „Besucherrückgang gestoppt“! Eine Kehrtwende zeichne sich in der 2005 konstatierten Entwicklung rückläufiger Zuschauerzahlen ab, denn „in der Spielzeit 2010/2011 besuchten 44 Prozent der bundesweiten Bevölkerung mindestens eine Musiktheateraufführung beziehungsweise ein E-Musikkonzert“. Sechs Jahre zuvor waren es 42 Prozent.

Doch nur auf einen flüchtigen ersten Blick scheint die in Presse und Rundfunk verbreitete Meldung, es gebe dem Kulturbarometer zufolge „mehr Besucher bei Opern und Orchestern“, alle Unkenrufe sowie seriös begründeten Zweifel an der Zukunftsfähigkeit unserer musikalischen Hochkultur und ihrer Träger zu widerlegen: Von wegen „Schwindsucht im Parkett“!? Wenn annähernd die Hälfte der Bevölkerung Interesse an Opern und Klassikkonzerten zeigt, muss man sich gewiss nicht um den Fortbestand unserer lebendigen, scheinbar doch putzmunteren E-Musikkultur sorgen ... 

Nur tappt leider, wer so folgert, in eine gleich zweifache Statistikfalle: Erstens kommt hier, was vom Zentrum für Kulturforschung auch zugegeben wird, der demographische Faktor ins Spiel – der Seniorenanteil war seit der letzten Befragung noch angewachsen, die grauen Jahrgänge sind in den Musentempeln also stark vertreten, während unter den Jüngeren sehr wohl die Schwindsucht im Parkett und auch im Rang grassiert. Zweitens aber und wesentlicher ist die unsinnige Fragestellung der Erhebung, die Frage nach „mindestens einem Musiktheater- oder Konzertbesuch: Wer bei einer entsprechenden Umfrage zum Kirchenbesuch angäbe, innerhalb eines Jahres zumindest an einer gottesdienstlichen Veranstaltung teilgenommen zu haben – weil vielleicht eine Nachbarin kirchlich beerdigt wurde, weil ein Neffe sich auf Wunsch der Braut vom Priester hat trauen lassen oder weil die kleine Tochter, die im nahegelegenen evangelischen Kindergarten unterkam, zu Heiligabend am Krippenspiel betei­ligt war – , der fiele deshalb nicht zwingend unter die Rubrik „gläubig“ oder „am kirchlichen Leben teilnehmend“. 

Einmal ist keinmal, das dürfte ebenso für die Folgerung vom jährlichen Besuch einer x-beliebigen Musiktheater- oder Instrumentalensemble-Aufführung auf eine Affinität zur „Klassik“ gelten. Da scheint die gefühlte Statis­tik aus dem Munde der früheren Berliner Philharmoniker-Intendantin Pamela Rosenberg gewiss realistischer: „Für 98 Prozent der Bevölkerung sind [Orchester-]Konzerte total irrelevant.“ (MUSIKforum 4/11, S. 24) Auf die junge Generation zumindest dürfte dies nach allen Beobachtungen und Messungen zutreffen, da haben bislang offenbar auch die inzwischen von zahlreichen Orchestern angebotenen Extraformate und -aktivitäten – aufs Ganze gesehen – noch nicht allzu viel bewirkt. Entwarnung darf aufgrund einer halsbrecherisch schrägen Statistik jedenfalls nicht gegeben werden. 

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