Das alte Jahr war in bewährter Weise und freundschaftlicher Runde rasch abgefeiert, nur dass dieses Mal ein anhaltender grippaler Virus mir die gewohnten kulinarischen Freuden am Fondue chinoise mit den von meisterhafter Hand selbstgerührten Saucen ein wenig genommen hatte. Auch die lieben Nachbarn, sofern überhaupt im Lande, hatten sich zu Mitternacht mit ihren Aktivitäten beschränkt – so dass bald Kraft gesammelt werden konnte für den kommenden Morgen. Denn Punkt 11 Uhr bestand eine feste Verabredung zwischen mir, der viel zu selten genutzten Bequemlichkeit der Ottomane und der weiten Welt: Neujahrskonzert!

Der beste Platz im Pantoffelkino. Foto: mku
Reihe 9 (#13) – Pantoffelkino
Weit, sehr weit muss ich zurückdenken, wann ich das letzte Mal an diesem Ereignis teilgenommen habe. Denn es geht natürlich nicht um irgendein Konzert, das sich zu diesem Zeitpunkt über einen der abseitigen Kulturkanäle im Äther versendet, sondern um das eine, um das einzig wahre und beständige: das der Wiener Philharmoniker im ehrwürdigen Goldenen Saal des Musikvereins. Mit mir und dem ORF waren gleich 95 internationale Fernsehanstalten zugeschaltet. Charpentiers Eurovisionshymne, Verzeihung: die bekannte Melodie aus seinem unbekannten Te Deum, kündigte das gewohnt strahlend an, nur dass auch an ihr die historische Aufführungspraxis inzwischen hörbare Spuren hinterlassen hat.
Wieder einmal war an diesem einen Tag alles fest in der Hand der Strauss-Dynastie, die glücklicherweise so viele Walzer, Märsche, Galoppe und Polkas geschrieben hat, dass neben manch vertrautem Klang noch immer etwas zu entdecken ist. Klug hatte man einst die Titel mit Blick auf Ereignisse und Erfindungen vergeben, genial ist vielfach deren musikalische Umsetzung, die einem noch immer ein Lächeln abringt – auch wenn heuer alles ein wenig zu geprobt, zu glatt gebügelt und damit zu perfekt klingt. Das aber gehört unweigerlich zur Inszenierung dieser zweieinhalb Stunden, die einem eine schöne, allzu schöne Welt vorgaukeln will.
Mögen der gut ausgeleuchtete Spaziergang durch die Hofburg, die Lesesäle der Nationalbibliothek und die Präsentation historischen Porzellans noch als kulturgeschichtliche Bilderwerkstatt durchgehen, die eingeblendeten Image-Filmchen der Stadtpanoramen erinnerten eher an jene Zuspieler, wie man sie vom Eurovision Song Contest kennt. Zur Pause durfte man schließlich eine blonde Kunststudentin auf ihrem Fahrrad durch Wien zu einigen architektonischen Höhepunkten begleiten – nur dass es offensichtlich ohne Routenplaner Schnitt um Schnitt kreuz und quer durch den Stadtplan ging. Beruhigend nur, dass bei vollgrüner Natur Kaiserwetter bestellt war, selten leere Straßen manche Sichtachse öffneten und ganz offenkundig touristenfreie Zonen eingerichtet worden waren. Blankpoliert wie aus einer anderen Zeit muteten auch die zwei eingespielten Balletteinlagen an, die in mir Erinnerungen an den schon lange vergangenen Operettenfilm wachriefen …
Gegen halb Zwei war es dann vorbei. Nach Donner und Blitz, dem obligatorischen Donau-Walzer wie auch dem in der Ersten Hilfe zur Herz-Druck-Massage empfohlenen Radetzky-Marsch (O glückliches Österreich!) wurde ich wieder in die musikalische Alltagswelt entlassen. Eines ist dabei sicher: Zum kommenden Jahreswechsel schaue ich mich nach einem alternativen, vielleicht gar progressiven, jedenfalls dramaturgisch interessanteren Programm um. Versprochen.
Über Reihe 9
Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.
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