Es ist mit dem Publikum so eine Sache. In der Regel möchte es schlichtweg musikalisch beglückt werden – so einfach und doch so schwer. Gelegentlich drückt es aber auch seinen Unmut aus. Der dafür beliebteste Ort ist wohl eine Opernpremiere (spätestens wenn sich das Inszenierungs-Team dem Applaus stellt). Im Konzert sind es hingegen Uraufführungen oder zumindest Werke neueren Datums, ein freilich gefühlt bis zur vorletzten Jahrhundertwende dehnbarer Zeitraum. Manchmal ist es auch der furchterregende Name eines Komponisten, der quer zur diffusen Erwartungshaltung steht.

Keine Reihe 9, aber die neunte Reihe im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie. Foto: mku
Reihe 9 (#15) – Erinnerungen an die Schatzalp
So weit, so gut – und: so schlecht. Denn es gibt auch die andere Perspektive, nämlich die der Musikerinnen und Musiker, vom Solisten über ein kleines Ensemble bis hin zum großen Orchester oder einer ganzen Bühnenbelegschaft. Applaus wird natürlich von allen gern gehört, vor allem aber an den richtigen Stellen. Das gelingt bei Liederabenden nicht immer (klärt sich jedoch recht schnell). Vorsicht ist bei vermeintlichen Traditionen geboten! Denn früher wurde bei Sinfonien auch nach einzelnen Sätzen Zustimmung oder Unmut bekundet, auf jeden Fall konnte sich die angestaute Spannung entladen – ein Umstand, den ich heute gelegentlich wirklich vermisse, weil er befreiend für alle sein könnte.
Befreiend ist für viele an diesen Haltepunkten zwischen den Sätzen aber das kräftige Räuspern, das überfällige Schnupfen oder das die Raumakustik überprüfende Husten – in allen verfügbaren Stimmlagen und so sehr, dass man sich über den durchschnittlichen Gesundheitszustand der Atemwege ernsthaft Sorgen machen müsste. Während der Musik aber wird es schwierig: Viele Kenner reißen sich zusammen und warten leidend bis zum nächsten Tutti ab. Der Liebhaber hat vorgesorgt, greift zum Taschentuch oder zur rettenden Pastille. Doch es gibt leider auch diejenigen im Publikum, die sich einer solch misslichen Situation gänzlich unvorbereitet ausgeliefert sehen – dabei ist es vor allem eine Frage der Rücksichtnahme und der Kinderstube: Bekanntlich hilft schon ein einfaches Taschentuch (con sordino!), im schlimmsten Fall auch das (vorübergehende) Verlassen des Saals.

Aus einem Programmheft des Niederösterreichischen Tonkünstler-Orchesters
Im Falle eines GAUs sind die Musiker selbst gefragt. Alfred Brendels mahnender Ausruf ist legendär geworden: „Entweder Sie hören auf zu husten oder ich höre auf zu spielen!“ Doch muss solcher Appell nicht immer vom Interpreten ausgehen, so wie gestern beim Schubert-Abend von Mitsuko Uchida im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie. Nach dem wundervoll entzeitlichten Kopfsatz der Fantasie-Sonate wurden die beiden Mittelsätze anhaltend ungedämpft zerhustet. „Ruhe jetzt mal. Das ist kein Sanatorium!“ – tönte es genervt aus dem Auditorium. Fast fühlte sich später die Zugabe mit den trocken getupften Achtelnoten (Klavierstück Nr. 2 aus Arnold Schönbergs op. 19) wie ein musikalischer Spiegel an.
Neuerdings halten einige Veranstalter aus weiser Voraussicht an den Garderoben Hustenbonbons bereit (eine kleine Investition für einen großen Abend), andere sehen sich genötigt, Verhaltenshinweise oder eine „Erste-Hilfe-Anleitung“ ins Programmheft zu drucken. Dabei ist doch eigentlich alles selbstverständlich – oder?

Aus einem Programmheft des Freiburger Barockorchesters
Nachtrag: Auch heute am Neunten wurde wieder folgenschwer gehustet. Dieses Mal im Leipziger Gewandhaus und so, dass Andris Nelsons den Kopfsatz von Bruckners 7. Sinfonie nach nur einem Takt kurzerhand abbrach.
Über Reihe 9
Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.
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