Es gibt Festivals oder Ferienkurse, die schon seit Jahrzehnten an der Spitze des Neuen stehen. Oftmals ebenso griffig wie abschreckend als Avantgarde bezeichnet, gelangen hier Werke zur Uraufführung, die nimmermüde um den Fortschritt des Materials kämpfen, die das noch lange nicht ausgehörte Klangspektrum zudem um etliche Facetten erweitern, die die Musik interdisziplinär auffassen, erkunden und durch Performance, robotische Erweiterungen, Video, Licht und Elektronik zum Teil eines ästhetisch grenzüberschreitenden, wenn nicht gar Grenzen überschreitenden Gesamtkunstwerks werden lassen.

Reihe 9 im Mendelssohn-Saal des Leipziger Gewandhauses. Foto: mku
Reihe 9 (#19) – No-go-Areas
Daneben gibt es Orte und Institutionen, in denen selbst noch im 21. Jahrhundert ergraute Traditionen aufrecht und lebendig erhalten werden. Mir fällt dazu zunächst die eine oder andere Abo-Reihe ein, die vor allem durch reisende Solisten, Ensembles und Orchester geprägt ist: Weder das Management der Musiker noch das der (oft genug) daran gebundenen Veranstalter mag hier auf waghalsige Innovationen setzen. Denn noch immer schrillen in weiten Kreisen der Liebhaber bei so manchem Komponistennamen der klassischen Moderne die Alarmsirenen – so, als wären ganze Bereiche der Musikgeschichte eine „No-go-Area“, in denen Leib und Leben auf dem Spiel stehen. Und ja: Es gibt tatsächlich Werke, in denen es ums Ganze geht, die nicht nur freundlich anrühren wollen, sondern die aufrütteln, anfassen und mit dunklen Saiten in die Tiefen der Seele vorzudringen vermögen, dorthin, wo man selbst aus Bequemlichkeit nicht schauen wollte.
Tatsächlich gab es einmal Zeiten (es ist ungefähr 30 Jahre her), in denen es noch recht selbstverständlich war, in einem Sinfoniekonzert auch etwas Ungehörtes zur Diskussion zu stellen, Werken aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Chance zu geben und sie für das Repertoire zu erproben. Aus jungen Jahren fallen mir dazu gleich ein paar niemals wieder live gehörte Raritäten ein – wie auch die damals leidenschaftlich auf MC mitgeschnitten Radiosendungen à la „Das neue Werk“. Derartiges ist längst weitgehend verbannt, aus dem Konzertsaal und selbst aus dem Nachtprogramm.
Wie schwer sich aber (noch immer!) ein ungeschultes Publikum mit neuen Klängen und Spielweisen tun kann, das war kürzlich im Leipziger Gewandhaus an unverdächtiger Stelle zu erleben, als zwei mittelalte Damen zu den Klängen eines vertrauten Mendelssohn-Quartetts raunten: „Das entschädigt für das letzte Mal!“ Doch sowohl die Nachfrage wie auch die Recherche im Konzertkalender brachte weder konkrete Angaben noch übliche Verdächtige zutage, was oder wer wohl gemeint gewesen sein könnte. Zu rasch war verdrängt worden … Dafür aber fand sich in den Annalen der letzten Wochen eine andere interessante Komposition, ein Auftragswerk des Gewandhausorchesters für sein ehrwürdiges Kammerensemble: ein Streichquartett D-Dur von Jean-Baptiste Doulcet (*1992), dessen musikalische Sprache ungebrochen an das ausgehende 19. Jahrhundert anschließt (vielfach zudem mit unverkennbaren motivischen oder harmonischen Entlehnungen).
Das Leipziger Gewandhaus und seine Abonnenten waren schon im 19. Jahrhundert unter den Zeitgenossen ob der konservativen Ausrichtung gefürchtet. Dass sich deren Haltung nun auch noch in der Gegenwart fortsetzt, muss verblüffen. Wo aber im lebendigen Jetzt das romantische Gestern so wörtlich weitergeschrieben wird (während etwa Jörg Widmann damit aktuell noch gestisch spielt), hat es die Zukunft schwer. Sich Neuem zu öffnen und gegenüber dem Unbekannten neugierig zu sein, ist nicht allein eine Frage der Ästhetik, sondern auch eine des Ethos. Im Konzertsaal und anderswo.
Über Reihe 9
Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.
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