Tut mir leid. Aber mit Zahlen hatte ich es zeitlebens nicht. Weder mit Geburtstagen, geschweige denn mit historischen Jahresmarken. Gerade auch bei meinem aktuellen Zustand kann ich nur vermuten, dass sich die nachfolgenden Geschehnisse um die Mitte des 21. Jahrhunderts, also circa 2050, zugetragen haben mögen. Für das Verständnis von Fremdsprachlern, Preußen oder so, ist ein Hinweis darauf, dass es sich bei mir um einen gebürtigen Urbayern aus Gmund am Tegernsee handelt, hilfreich. Und vielleicht bedingt durch die herrlichen hohen Berge der schon in frühen Filmen belegte Beweis bajuwarischer Nähe zu Höherem. Beispiele: „Der Münchner im Himmel“ ist eine humoristische Satire des Schriftstellers Ludwig Thoma, die anno 1911 veröffentlicht und häufig als Drehbuchvorlage genutzt wurde. In ihr behandelt Thoma den Typus des bayerischen Grantlers. Bedeutsam die unverwechselbare Sprachkultur: Durch sein Schimpfen, Fluchen und lautstarkes Frohlocken („Ha-ha-lä-lä-lu-u-uh – Himmi Herrgott – Erdäpfi – Saggerament – lu – uuu – iah!“) wird eine höhere Macht auf ihn aufmerksam. Oder: „Der Brandner Kaspar und das ewige Leben“ – ein Bajuware überlistet den „Boandlkramer“, den Tod. Oder den vom Titel her philosophisch selbsterklärenden Streifen „Wer früher stirbt ist länger tot“.

Theo Geißler. Gemälde von Anneliese von Markreither. Foto: Theo Geißler
Theos Kurz-Schluss: Wie ich einmal aus fernerer Zukunft in die nähere Vergangenheit blicken konnte – vielleicht nur ein Traum?
Aber Schluss mit diesen eigentlich überflüssigen Belegen für die urbayerische Neigung zum Okkulten. Durchgesetzt hat sich nämlich die weise Prophezeiung des ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber vom Weltzentrum der Innovation zwischen Hof und Garmisch: Das Land von Laptop und Lederhose, wobei man angesichts der totalen Digitalisierung Letztere ruhig weglassen kann. Eine detaillierte Beschreibung der technischen Entwicklung während der nächsten Jahrzehnte und deren ungeahnte gesellschaftliche Auswirkungen erspare ich Ihnen.
Nur so viel: Ein Zeitalter des von Egoismus und Neid geprägten Extrem-Individualismus seitens des „homo degeneratis“ bei explosionsartigem Self-Development aller denkbaren künstlichen Intelligenzen führte unter anderem aufgrund der unauslöschlichen drei Roboter-Grundgesetze Isaac Asimovs zu einer Total-Übervölkerung der Erde. Dank KI wurden – wie gesagt ungefähr ab Mitte des 21. Jahrhunderts – die Menschen insofern unsterblich, indem ihre „persönliche“ Gedankenwelt samt Emotionen und sogenannter Seele auf Speicherchips in Salzkorngröße reduziert und in Mini-Waben bewahrt werden konnten. Was für ein Segen. Kaum noch Platzverbrauch, Verschmutzung, Krieg und Zerstörung. Für Prüfzwecke ließ spezielle, weitentwickelte KI solche „Homunculi“ in einer wenig raum- und materialverbrauchenden Avatar-Form immer wieder mal expandieren.
Bei zunehmendem Selbstbewusstsein der künstlichen Intelligenzen, angesichts der Entdeckung von synthetischem Spaß, von Lust und Freude gerieten solche Revitalisierungstests besonders von kommunikationsintensiven Kleingruppen zu beschäftigungstherapeutischen, zunehmend aber auch unterhaltsamen Events für die KIs. Das alles kann ich gewissermaßen als zuverlässiger Zeuge aus eigenem Erleben berichten. Denn vermutlich aufgrund einer winzigen Störung in der Quanteninterpolation – und damit in der Realitäts-Interpretation – expandierten die KIs ganz Bayern im Konservierungs-Frühstadium. Insofern saß ich als Greisen-Avatar mit einer All-Record-and-Remember-Brille auf der Nase in einer Herrentoiletten-Kabine des Maximilianeums, so hieß der bayerische Landtag. Eine mir wohlbekannte Stimme – die Markus Söders – sang „Wackel-Wackel-Wackel-Kontakt“, rummste die Tür zu, schnaubte und schnaufte, begann, ein tröpfelndes Geräusch zu generieren. Aus einem quäkenden Lautsprecher erklang die bayerische Nationalhymne: Gott mit dir …“
Die Tür öffnete sich erneut, schloss leiser. „Servus Markus“ – näselte es aiwangerisch. „Ach Du, Hubsi, mir ham halt den söllem Rhythmus, gell in jeder Beziehung? Saulangweilig heut wieder, die Kaniber mit ihrem Organ schläfert mich regelmäßig ein – und der Kulturschleimer – ich vergess den Namen immer – stimmt: Blume, nicht Kaktus, wenn der wieder das Flennen anfängt …“ – „Recht hast, Markus. AproPopo: Is jetzt die Diätenverdopplung für Ministerpräsident und Vize wegen seelischer und oppositioneller Überlastung schon durch?“ Ach Hubsi, da wart ich, bis der Grießhammer Holger von den Sozis wieder eingeschlafen ist. Der schnarcht wie ein Hubschrauber und braucht a halbe Stund, bis er wieder aufwacht, wenn überhaupt. Dann tun wir uns noch leichter.“ „Supi, Markus. Auf Dich is Verlass. Kennst eigentlich schon den: Eine Blondine bleibt mit ihrem Auto im Schnee stecken. Nach einiger Zeit kommt ein Schneeräumer, sie fährt ihm nach. Nach circa einer Stunde bleibt der Fahrer stehen und fragt die Blondine, warum sie ihn verfolgt. Darauf meint sie, dass ihr Vater ihr beigebracht hat, wenn sie mit dem Auto nicht weiterkommt, immer einer Schneeraupe nachzufahren. Sagt der Fahrer: ›Tja gute Frau, mit dem Aldi-Parkplatz bin ich jetzt fertig, jetzt können Sie mir zum Rewe folgen.‹ HäHäHä.“ „Ach Hubsi, du hast immer die Besten drauf. Geh ma wieder nei in die – wie Du immer so schön sagst – Quatschbude. Ach ja, Du stimmst doch auch für den Chiemsee-Tegernsee-Kanal, damit wir die Mangfall schiffbar bis zur Donau ausbaggern können wegen dem Rennboot vom Höneß, und München genug Trinkwasser hat?“ „Markus, mein Freund, das ist doch Ehrensache“. Die Tür klappert.
So schnell es geht, rupfe ich die All-Record-and-Remember-Brille von meiner Nase, spüle sie die Toilette runter in der Hoffnung, dass sie von irgendeinem expandierten Homunculus irgendwann irgendwo gefunden wird. Im selben Moment wird mir klar, dass dies leider folgenlos bleiben wird. Es sei denn, die KI hätte mittlerweile einen sehr feinen Sinn für Humor entwickelt. Vor mir auf der Toilettentür leuchtet eine Grotesk-Schrift auf: „Wer früher stirbt?“ – Licht aus.
Theo Geißler ist Herausgeber von Politik & Kultur
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