Zum Jahreswechsel veröffentlichte Alfred Brendel in der „Neuen Zürcher Zeitung“ einen merkwürdigen Artikel. Er kolportierte die Geschichte einer fiktiven Pianistenkarriere, der führende Blätter und zahllose Plattenkäufer im englischsprachigen Raum aufgesessen waren, und er fragte sich, ob da nicht im technischen Zeitalter ein neuer Wunderglaube zu diagnostizieren sei.
Die Story geht so: William Barrington-Coupe, ein englischer Tontechniker und Produzent, veröffentlichte auf einem eigenen Label namens „Concert Artists“ jahrzehntelang Aufnahmen der Pianistin Joyce Hatto, seiner Ehefrau, die in Wirklichkeit aber gar nicht von ihr stammten. Der gewiefte Bastler hatte ältere Aufnahmen anderer Pianisten genommen und sie technisch umfrisiert, was ihm offenbar mit dem Computer besonders gut gelang. Im Laufe der Zeit erschien praktisch das gesamte klassisch-romantische Klavierrepertoire unter ihrem Namen. Dass die Frau eine herkulische Leistung hätte vollbringen müssen, fiel offenbar keinem der lobhudelnden Rezensenten auf.
Mit größter Geschicklichkeit führte das Paar die Öffentlichkeit hinters Licht. Der Verkauf der gefälschten Aufnahmen wurde vom Ehemann mit einer rührseligen Story angeheizt: Die von einer unheilbaren Krankheit geplagte Pianistin könne die Strapazen eines öffentlichen Konzerts nicht mehr ertragen; ihre Aufnahmen müsse sie sich unter Schmerzen abringen; die letzte Einspielung – sinnigerweise Beethovens Sonate „Les Adieux“ – habe sie drei Wochen vor ihrem Tod im Rollstuhl gemacht. Zur Story gehörte auch, dass sie in ihrer Jugend Clara Haskil und Furtwängler vorgespielt habe, und für ihre Aufnahmen mit Orchester erfand der fantasiebegabte Ehemann fiktive Orchester und Dirigenten samt getürk-tem Lebenslauf.
Die Pianistin gab es zwar, sie starb am 30. Juni 2006 – laut Brendel 2007 – mit achtundsiebzig Jahren. Doch außer einer Aufnahme aus den siebziger Jahren mit Variationen eines britischen Komponisten gibt es keine Platten von ihr, und offenbar ist sie seit 1967 auch nie wieder öffentlich aufgetreten.
Bei ihrem Tod erschienen in den Londoner Zeitungen noch überschwängliche Nachrufe, doch kurze Zeit später flog der Schwindel auf. Der Kritiker Jed Distler, der sie zuvor noch als eine der größten Pianistinnen apostrophiert hatte, schob im Februar 2007 ihre Aufnahme von Liszts Etüden in seinen Computer – und siehe da, die iTunes-Online-Datenbank identifizierte sie ungefragt als Aufnahme des ungarischen Pianisten László Simon. Die Zeitschrift „Grammophone“ ging der Sache nach, und eine technische Analyse brachte ans Licht, dass die Aufnahmen ausnahmslos Fakes waren. Dahinter kamen illustre Namen zum Vorschein: Die Godowski-Bearbeitungen der Chopin-Etüden stammten zum Beispiel von Marc-André Hamelin, das zweite Brahms-Konzert war von Vladimir Ashkenazy, Liszts „Feux follets“ waren der Japanerin Minoru Nojima geklaut und im Tempo beschleunigt worden, was der Interpretation die Aura des Wundersamen verlieh. Die Liste der Geplünderten umfasste bald einmal 66 Namen.
Dazu kam die Liste der Geprellten. Die renommiertesten Kritiker befanden sich darunter – Rezensenten, Klavierspezialisten, Meinungsführer aller Art. Die Affäre eines Fälschers wurde zur Affäre der Kritik. Hinterher fragten sich alle, wie sie dem Betrug hatten aufsitzen können. Es war, als würde die Schluss-Szene aus der Oper „Der junge Lord“ von Bachmann/Henze nachgestellt, in der alle beschämt ausrufen: „Ein Aff’ ist’s, ein Aff’!“
Begonnen hatte der Hype um Joyce Hatto 2003 in einem Yahoo-Forum von Klavierbegeisterten. Das Internet-Gerücht breitete sich ungeprüft in der Klassikszene aus und landete schließlich als Künstler-Saga in den Zeitungen. Die „seriösen“ Kritiker wollten ja nicht als verschlafen gelten und sprangen auf den Zug auf. Das lässt sich alles schön nachlesen in der Vierteljahreszeitschrift „The Economist“, Ausgabe Herbst 2007, herunterzuladen auf Wikipedia unter „Joyce Hatto“. Auch Brendel hat hier mit zweijähriger Verspätung abgeschrieben. Keine Neuigkeit, nirgends.
Wenn die Geschichte trotzdem festzuhalten bleibt, dann aus drei Gründen. Erstens zeigt sie wieder einmal, dass Skepsis angebracht ist, wenn der Kritiker zum Lobgesang anhebt. Denn auf seine Hymne trifft auch nur zu, was Hamlet auf die Frage des Polonius, was er denn lese, antwortet: „Worte, Worte, Worte.“ Zweitens wird hier das Muster erfolgreicher PR sichtbar: Man muss etwas nur lange genug wiederholen, und am Ende glauben es alle; das Internet wirkt dabei als Informationsbeschleuniger. Und drittens scheinen nicht nur die Kritiker, sondern auch ein Musiker wie Alfred Brendel, der noch vor einigen Jahren Interviewfragen nach der Bedeutung der elektronischen Medien für die Interpretation empört als unkünstlerisch zurückwies, etwas gemerkt zu haben: Unter Kulturmenschen lebt sich’s ohne Computer vielleicht unbeschwerter, aber man kann von denen, die damit umzugehen wissen, auch umso leichter über den Löffel balbiert werden.