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Vegetativer Geschmack

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Über Geschmack lässt sich angeblich nicht streiten. Oder trefflich streiten. Wie heißt das denn jetzt eigentlich? Nicht streiten oder streiten? Egal. Über Geschmack… Dieses Wort in diesem Zusammenhang zu verwenden ist mehr als blöd. Aber so ist sie nun mal, unsere Sprache. Über Geschmack lässt sich ganz vortrefflich streiten, und ich habe mich an solchen Streitereien immer sehr gerne beteiligt, insbesondere dann, wenn es um die Musik im Allgemeinen und im Speziellen ging. Denn bei diesem Thema treffen nicht nur Geschmackswelten aufeinander, sondern Weltanschauungen. Und wenn es um die Art und Weise die Welt anzuschauen geht, gibt es immer Streit.

Die mir unsympathischsten Musikkonsumenten sind diejenigen, die sagen „Ich hör’ alles“ oder „Mir gefällt alles“. Das sind genau die gleichen Leute, die im Fußballstadion neben dir stehen und sagen „Soll der Bessere gewinnen. Hauptsache, wir sehen ein schönes Spiel.“ Von solchen Typen muss man sich unbedingt fernhalten! Unbedingt! Die machen dir jedes Spiel kaputt mit ihrem Gequatsche. Jedes! Im Bereich der passiven Musik sind das die „Stillevertreiber“, denn keinen anderen Zweck erfüllt hier die Musik. Das hat unter anderem auch mit einem relativ unbekannten, anatomischen Defekt zu tun: Töne geraten in den Gehörgang A, treffen auf das Trommelfell A, durchwandern die Eustachische Röhre A, den Rachenraum, dann geht’s die andere Eustachische Röhre B wieder rauf, durch das Trommelfell B in den Gehörgang B und – SCHWUPP! – weg isse, die Musik. Sprichwörtlich „zum einen Ohr (A) rein, zum anderen (B) wieder raus“. Das heißt, es findet keinerlei Gehirnkontakt statt, geschweige denn Datenverarbeitung.

Woran diese Leute denn überhaupt merken, dass Musik um sie herum ist? Wenn das Gehirn davon gar nix mitbekommt? Das ist eine sehr, sehr clevere Frage. Speziell für diese Leute wurde die Kickdrum, zu Deutsch Basstrommel, erfunden. Auf jeden Beat im Takt ein Kick mit der Kickdrum, oftmals das einzige Schlagwerk in den „Mir gefällt alles“-Produktionen, und die ganze Sache läuft über das vegetative, das unbewusste Nervensystem ab. Der Magen bekommt pro Takt vier BUMM-BUMM-BUMM-BUMM Schläge verpasst – denn Stillevertreibermusik ist stets im 4/4-Takt – und das Stammhirn veranlasst das Nebennierenmark (Medulla) zur Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin. Der Herzschlag beschleunigt sich, der Blutdruck steigt und die Muskulatur wird verstärkt durchblutet.

Denkvorgänge werden gedrosselt beziehungsweise komplett blockiert, denn der vermehrten Muskeltätigkeit muss Energie zur Verfügung gestellt werden. Noch nie bemerkt, dass diese Leute, wenn sie auf eine Party kommen, sofort den Körper völlig unkontrolliert bewegen? Egal, welche Musik läuft? Und dich selbst bei persönlicher Begrüßung nicht mal angucken, sondern ihren leeren und glasigen Blick (blockierte Denkvorgänge) immer wie-der in die Runde schweifen lassen? Solch ein Mensch wird in diesem Moment ausschließlich vom Sympathikus seines Vegetativums gesteuert. Je nach Konstitution kann es eine ganze Weile dauern, bis sich der Organismus der Person an die Stresssituation, denn nichts anderes ist es, akkommodiert. Den meisten gelingt das überhaupt nicht, insbesondere dann, wenn auch noch entsprechende Substanzen im Spiel beziehungsweise Blut sind. Ich weiß, ich weiß, das klingt jetzt alles ziemlich wissenschaftlich, für die meisten Leser gar hypothetisch und für den einen oder anderen vielleicht sogar schwachsinnig.

Dummerweise habe ich jetzt völlig vergessen, worüber ich überhaupt schreiben wollte. Das passiert mir in letzter Zeit sehr oft. Vor allem dann, wenn ich mich in meinen eigenen wirren Thesen ausweglos verirre. Für die medizinische Beratung gebührt mein Dank dem
Pschyrembel – Klinisches Wörterbuch, 259. Auflage mit CD-ROM“.

Ein früherer Kunstlehrer kommentierte eines meiner ganz hervorragenden, dadaistischen Gemälde lapidar mit dem Satz: „Semmel, das ist ganz offensichtlich das Abbild deines inneren Chaos.“ Wahrscheinlich hatte der Mann Recht.

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