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Deutschlands demokratischste Rooftop-Location: Martin Hufner wirft einen Blick in den Deutschen Bundestag

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Verlust des Zuhörens – eine Erklärung für die Krise der Demokratie

Untertitel
Nachschlag von Rainer Nonnenmann
Vorspann / Teaser

Optimisten hoffen, das neue Jahr werde besser. Pessimisten befürchten, das alte war das beste, weil nun alles noch schlimmer komme: mehr Kriege, Konflikte, Katastrophen, Krisen. Das Ausmaß der Probleme ist fürwahr besorgniserregend. Zudem erodieren Grundvoraussetzungen der Demokratie, weil Streitfragen über Klima, Energie, Verkehr, Migration, Gendern, Steuern, Innen- und Außenpolitik immer weniger sachlich diskutiert werden. Eine Ursache dafür beschreibt Byung-Chul Han in seinem Buch „Infokratie – Digitalisierung und die Krise der Demokratie“ (Berlin: Matthes & Seitz 2021). Der koreanisch-deutsche Philosoph und Kulturwissenschaftler lehrte bis 2017 an der Universität der Künste Berlin. In seinem Essay diagnostiziert er ein Schwinden der diskursiven Öffentlichkeit angesichts von Informationsflut, Bubbles und Fake. Obwohl er bekannte Positionen aufgreift und zu unscharf zwischen digitalen Medien und deren rechtlich und moralisch zu bewertendem Gebrauch unterscheidet, liefert er dennoch eine ebenso aktuelle wie plausible Erklärung für die unversöhnlichen Polarisierungen, die in vielen Demokratien um sich greifen: USA, Ungarn, Polen, Türkei, Frankreich, Italien und hierzulande.

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Jürgen Habermas stellte schon in „Strukturwandel und Öffentlichkeit“ (1962) fest, dass Fernsehen und Rundfunk ein Gemeinwesen zur Mediokratie machen, weil sich die Politik der Logik der Massenmedien unterwirft und Amüsement und Marketing den rationalen Diskurs durchdringen. Die Grenzen von Realität und Fiktion, Tatsache und Meinung, Vernunft und Gefühl werden aufgeweicht und die Urteilskraft schwindet. Seit den 1980er und 90er Jahren kamen Privatsender und Internet hinzu. Die daran geknüpften Hoffnungen auf Liberalisierung, Pluralisierung, Diversifizierung und direkte Demokratie sind längst zerplatzt, trotz globaler Teilhabe und vernetzter Weltöffentlichkeit.

Das Internet ist primär ein Bildmedium und damit weniger argumentativ als Schrift. Es beschleunigt die Kommunikation und befördert die Affektaufladung mit Memes, Blogs, Posts, Tweets und viral gehender Desinformation. Der Generaldirektor der WHO Tedros Adhanom Ghebreyesus sprach zu Beginn der Corona-Pandemie 2020 sogar von einer „Infodemie“, die es neben Covid-19 ebenso einzudämmen gilt. Das von Habermas beschriebene „kommunikative Handeln“ aus zeitintensivem Erfahren, Analysieren, Austauschen und Abwägen von Argumenten wird durch Selbstdarsteller, Influencer, Alarmismus, Sensations- und Schockmeldungen verdrängt.        Hinzu kommen intransparente Algorithmen und durch Microtargeting personalisierte Filterblasen. Neben Einzelpersonen, Unternehmen und Staaten können inzwischen auch automatisierte Bots, Chats und KI jegliche Information nach Belieben codieren, editieren, virtualisieren, manipulieren. Das Tatsachen- und Realitätsbewusstsein wird ausgehöhlt. Falschmeldung, Lüge, Werbung und Sachinformation sind kaum mehr zu unterscheiden. Ohne anerkannte Tatsachen ist aber kein konsensorientierter Diskurs möglich. Im Zeitalter des einstigen Twitter-Präsidenten und erneuten Amtsanwärters Donald Trump sieht Byung-Chul Han daher die vormalige Mediokratie zur „Infokratie“ verwandelt. Meinungsbildung setzt voraus, dass man eine Sache von verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet. Laut Hannah Arendts „Wahrheit und Politik“ (1964) ist dabei immer auch der Standpunkt von Abwesenden zu berücksichtigen und dadurch mitzurepräsentieren. Ohne Dialog und die Positionen anderer ist die eigene Meinung weder diskursiv noch repräsentativ, sondern unfertig, unreflektiert, dogmatisch. Indem Extremisten – rechts wie links – Meinung mit Identität gleichsetzen, schaffen sie „tribalistische Biotope“, die außerhalb des markierten Stammesgebiets Feinde wittern und Medien, Institutionen, Verfassungsorgane, Recht, Gesetz und Politik delegitimieren. Abweichende Meinungen werden als Angriff auf die eigene Person erlebt und entsprechend bekämpft, statt diskutiert. Der Wettstreit um die besten Ideen und Argumente wird ersetzt durch geschlossene Feedbackschleifen und autopropagandistische Echokammern, die im Schutz von Rudelmentalität und Anonymität Verschwörungstheorien, Hatespeaches und Shitstorms produzieren.

An die Stelle qualitativ begründeter Urteile treten Quantitäten von Clicks, Likes und Followern als Waffen in einem Informationskrieg, der nicht auf Gespräch setzt, sondern auf Deutungshoheit, Stimmungsmache, Manipulation zielt. Das Fazit von Byung-Chul Han lautet daher: „Das Verschwinden des Anderen bedeutet das Ende des Diskurses“. Und ohne den Versuch gemeinsamer Wahrheitsfindung gerät die Demokratie in die Krise. Dass jetzt Nationalisten und Faschisten die Deportation von nach Deutschland zugewanderten Menschen planen, ist ein Angriff auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung, der sich ebenso gegen viele Millionen unschuldiger Mitbürgerinnen und Mitbürger richtet wie gegen die seit jeher von Persönlichkeiten aus aller Welt geprägte Wirtschaft, Wissenschaft, Forschung, Lehre, Kunst, Kultur und Musik.

Doch wenn das Verschwinden des Zuhörens eine wesentliche Ursache der Krise der Demokratie ist, dann bietet unbekannte, alte, neue, fremde, andere Musik vielleicht die Möglichkeit, eben diese wesentliche Voraussetzung der Demokratie zu stärken: Zuhören! Denn Musik hören, die man noch nicht kennt, ist wie Fragen stellen, deren Antwort man noch nicht weiß.

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