Den Jobgipfel überstanden, den sommerlichen Ozonwahn vor uns, schreiten wir weiter, das Leben hinter uns zu bringen, wenn sonst schon niemand vor uns steht. Im Kreise unserer Liebsten geht es also los: Tim Renners neue „Motor“ Plattenfirma meldet sich mit der ersten Vertragsunterschrift: dorfdisko. So nennt sich ein Kölner Quartett aus der Pampa. Die EP „Unterwegs“ soll ausloten, ob ihre Punk angekratzte Mischung aus Neuer Deutscher Welle, Alter Deutscher Welle und einem Stäubchen Pop beim Open Air Publikum funktioniert. Könnte klappen, weil „dorfdisko“ nicht so laut-plakativ ist wie alle anderen Deutschsinger. Ein guter Schuss Realitäts-Rock lässt den Schlund auf mehr Material gierig offen stehen. Die Düsseldorfer Subterfuge umweht seit jeher ein strenger Monsun des Geheimtipps. Die idyllischsten Kritiken sahnten sie für ihre Indie- Perlen ab –, zum Aufmerksamkeits- Durchbruch reichte es nie. Musste es auch nicht, beschloss die Band einst und spielte für 2005 „The Legendary Eifel Tapes“ ein, die als Gemeinschafts-Erlebnis genannter Region entstanden. Tragfähiger Pop mit Schwere, heftige Traurigkeitsmelodien verhaften lockere Songstrukturen, Bläser lassen an Burt Bacharach erinnern, rockigere Fetzen an Morrissey, und weil „Subterfuge“ sämtlichen Pomp verbannt haben, genießt man ein formidables Popalbum im Sinne des erhabenen Songwritings. Mit knapp 14 Jahren nahmen die Norweger Jaga ihr erstes gewollt orientierungsloses Album auf, nun, elf Jahre später, evolutionierte man sich zu einer homogenen Rockband mit dem Album „What we must“, das die Raumzeit experimentell rockig zu füllen weiß. Orientalisches Flair wird mit behutsamen Jazzakkorden angereichert, der Humus aller Songs sind Prog-Rock-artige Gitarrenideen, die wohl temperiert in elektronische Gefilde fliehen und mal Schlagzeug dann Tasten unter Strom setzen. Nicht unbedingt gewagt, aber der Stil ist vielfältig und provokativ.
„Lo-Fi- tistscher“ gehen die nächsten Nordlichter Tiger Tunes ins Popgeschehen, wenngleich sie selbst meinen, einen elektronifizierten Rock auf „Absolutely Worthless Compared To Important Books“ zu spielen. Die Dänen paaren den Humor der „Leningrad Cowboys“ mit Pop-Punk, der verhalten zum Noiserock oder Wave-Pop kippt, den man in den 80ern ähnlich gehört hat.
Die großen Garbage kehren mit ihrem vierten Album zurück. Während man in Deutschland noch rätselt, wer das dynamische „laut/leise- Spielchen“ der aktuellen Popwunder erfunden hat, befindet sich die Band um Grunge-Ikone Butch Vig und Obergirlie Shirley Manson in einer fünften Dimension. Nachdem die Band kurzzeitig im Koma lag und strittige Alben absolvierte, geht es mit „Bleed like me“ zurück ins Jahr 1995. Gitarren-geneigter Rock mit butterweichen aber prägenden Elektronik-Samples. Eine starke Rockplatte, die wohl an der uninteressierten Öffentlichkeit vorbei rutschen dürfte.
Das Brothers Keepers Kollektiv ist 2005 mit dem zweiten Album unterstützend am Start. Der gleichnamige eingetragene Verein (gegen Rassismus und zur Begleitung Jugendlicher in gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen) konnte diesmal Afrob, Denyo, D-Flame, Don Abi und unumstößlich Xavier Naidoo zum gemeinsamen Singen und Songschreiben gewinnen. Dezente HipHop-Nummern der deutschen Schule, bisweilen Reggaesongs und gescheite Rapgesänge bilden das Korsett der Multikulti-Platte. Nach Irrungen, Ausstiegen, Labelsuche, Musikfindung präsentiert eine der ersten Crossover Bands, Such A Surge, das sechste Album „Alpha“. Auch hier der Trend stark an den Kindertagen der Band vor mehr als zehn Jahren ausgerichtet. Romantik hat wenig Platz, knallhartes Entertainment zwischen Metalgitarren, Hardcore-Gesang und politischen wie ironisierenden deutschen Texten. Ein Mutmacher-Album ohne Pop und das übliche „Deutsch“-Gehabe. Besitzenswert.
Es gibt Songwriter, die funktionieren als Kopien, andere sind so mit sich selbst verkracht, dass man lange hören muss, um jene Größe der Songs zu erkennen. Die Schwedin Ane Brun gehört zu dieser kauzigen Ecke. Skandinavisch isoliert schreibt sie mit einer Tragweite, die oft erst später – vielleicht läuft schon ein anderes Album – real wird. Die Akustikgitarre bleibt ihre Begleiterin im Zentrum der Empfindungen, ihre Songs bleiben kurz, scheinbar mit verschlossenen Augen in Dunkelheit geschrieben. Unnahbar, distanziert, aber mitten ins Herz trifft sie mit „A Temporary Dive“. Oft überblickt wird Keimzeit um die Geschwister Leisegang. Wer Songs wie „Mailand“ schreibt, meisterliche Untertöne anschlägt und musikalisch so auf der Höhe der Zeit ist, ohne Wurzeln umzustoßen, der spielt in einer fantastischen Band, die Keimzeit heißt. Wer „Privates Kino“ nicht abgöttisch liebt, wird Keimzeit nie mehr lieben können. Rockmusik aus Deutschland als Grobdefinition reicht völlig.
Der Holländer Carel Kraayenhof etabliert sich mit „Street Tango“ (inkl. DVD) als herausragender Tango-Erneuerer. Der Bandoneon-Star schließt den Kritikern zufolge die Lücke zwischen Piazzolla und Pugliese, und in der Tat: Frischer, brisiger und urbaner hat man den von Kraayenhof gespielten Tango lange nicht mehr gehört. Die Wehmut macht er greifbar.
Die Kanadierin Sarah Slean begann als Piano spielende Songwriterin und entdeckt nun auf „Day One“ den Pop, der sich allerdings unbedingt zum Rock mausert, mal durch humoristische wie kabarettistische Einlagen aufgelockert aber auch an die alten Zeiten gemahnend Songwriter Tiefen hervorruft.
Diskografie
• Sarah Slean: Day One (Warner)
• Carel Kraayenhof: Street Tango (Universal)
• Keimzeit: Privates Kino (Pirate Records)
• Ane Brun: A Temporary Dive (V2 Records)
• Such A Surge: Alpha (Nuclear Blast)
• Brothers Keepers: Am I my Brother’s Keeper (BMG)
• Garbage: Bleed like me (Warner)
• Tiger Tunes: Absolutely Worthless… (V2)
• Jaga: What we must (Ninja Tune)
• Subterfuge: The Legendary Eifel Tapes (Supermodern Music)
• dorfdisko: Unterwegs EP (Motor)