Wie symbolhaft, passend und einleuchtend das doch war: Louis Armstrong, Botschafter der amerikanischen Musik namens Jazz, Integrationsfigur innerhalb Amerikas und Sympathieträger der USA in aller Welt, feierte am gleichen Tag Geburtstag wie die unabhängige US-Nation! Doch dann kam Gary Giddins, einer der zuverlässigsten amerikanischen Jazzkritiker, und rief: Stopp! Stimmt ja alles gar nicht!
Vor 30 Jahren schien die amerikanische Louis-Armstrong-Welt noch in Ordnung. Obwohl der Jazz-Star schwer krank war und auf ärztliche Anweisung nicht mehr Trompete spielen durfte, schickte sich Amerika an, im Jahr 1970 den 70. Geburtstag seines Nationalhelden groß zu feiern. Im Mai sangen ihm Musiker und Kritiker für die Platte „Louis Armstrong and his Friends“ eine Art vorgezogenes Geburtstagsständchen – darunter Miles Davis und Ornette Coleman. Das Magazin „Down Beat“ widmete dem Jubilar eine ganz besondere Titelgeschichte, in der moderne Musiker wie Kenny Dorham und Thad Jones bekannten, durch Armstrong zur Trompete gekommen zu sein. Am 4. Juli 1970 beging Amerika jubelnd seinen Independence Day und gedachte zugleich des 70. Geburtstags des kranken Musikers. Zum 200. Unabhängigkeitstag 1976 wurde in New Orleans eine Armstrong-Statue errichtet – heute das Zentrum des Louis Armstrong Parks. Wie symbolhaft, passend und einleuchtend das doch war: Louis Armstrong, Botschafter der amerikanischen Musik namens Jazz, Integrationsfigur innerhalb Amerikas und Sympathieträger der USA in aller Welt, feierte am gleichen Tag Geburtstag wie die unabhängige US-Nation! Doch dann kam Gary Giddins, einer der zuverlässigsten amerikanischen Jazzkritiker, und rief: Stopp! Stimmt ja alles gar nicht! Schon oft war angezweifelt worden, dass Armstrongs symbolträchtiges Geburtsdatum der Wahrheit entsprach. Viele Schwarze in Amerika, die vor 100 oder mehr Jahren in armen Verhältnissen aufwuchsen, wussten ihren Geburtstag nicht und wählten, wenn sie sich für ein Datum entscheiden mussten, den Tag der größten amerikanischen Ehre, den 4. Juli. Graham Collier, der 1983 eine Armstrong-Biografie veröffentlichte, fand bei den Recherchen zu seinem Buch keinerlei Beweis für den von Armstrong behaupteten Geburtstag und vermutete sogar aus verschiedenen Gründen, Armstrong sei bereits 1898 geboren. Er habe 1918, als er zum ersten Mal amtlich nach seinem Alter gefragt wurde, sein Geburtsjahr gefälscht, um dem Militär zu entgehen – meinte Collier. In der Tat wurde in diesem Jahr das Einberufungsalter auf 18 Jahre herabgesetzt. Nur: Die Musterung fand im September statt, und da war das Geburtsdatum 4.7.00 keine Hilfe mehr. Schlecht gerechnet, Herr Collier!Gary Giddins recherchierte etwas genauer und wurde 1988 fündig – im Taufregister der Kirche Sacred Heart of Jesus Christ in New Orleans. Dort stieß er auf den folgenden lateinischen Eintrag von Reverend J.M. Toohey, der auch den Taufpaten abgab: „Armstrong. (niger, illegitimus) Die XXV Augustii A.D. 1901, ego baptizavi Ludovicum natum die IV Augustii 1901, ex Gulielmo Armstrong et Maria Est. Albert, conf.“ Zu Deutsch: Armstrong, schwarz, unehelich. Am 25. August 1901 taufte ich Louis, geboren am 4. August 1901, Eltern: William Armstrong und Mary Albert. Und Giddins fand noch etwas: Unterlagen einer Volkszählung vom April 1910. Name: Armstrong Louis. Verwandtschaftsverhältnis: Sohn. Geschlecht: männlich. Alter: 8. Wäre er 1900 geboren, müsste da eine 9 stehen.
Die amerikanischen Patrioten dürfen also aufatmen: Armstrong hat sich nicht „jünger gemacht“, um dem Waffendienst für sein Vaterland zu entgehen – er hat sich vielmehr „älter gemacht“! Fragt sich nur: warum? Verschiedene Gründe sind denkbar. Dass er unbedingt zur Armee wollte, ist der unwahrscheinlichste. Aber: Storyville, der Rotlichtbezirk in New Orleans, war im November 1917 geschlossen worden, und die verbliebenen Cabaret-Besitzer waren auf der Hut – und wollten keineswegs von der Polizei dabei ertappt werden, dass sie minderjährige Musiker beschäftigten. Außerdem: Louis Armstrong heiratete 1918, er brauchte einen Beweis seiner Volljährigkeit.
Also ging er hin, ließ sich von der Einberufung registrieren und konnte nun seine „draft card“ vorweisen: Geboren am 4.7.1900. Vielleicht war die falsche Monatsangabe ein Versehen. Vielleicht dachte Armstrong auch: Wenn ich das Jahr fälsche, kann ich’s mit dem Monat genauso machen, und der 4. Juli passte hervorragend in die patriotische Aufbruchsstimmung.
Nicht am 4. Juli 1900 also, sondern am 4. August 1901 wurde Armstrong geboren. Giddins’ Biografie „Satchmo“ erschien 1988, und die Facsimile-Abbildungen der entscheidenden Dokumente lassen sich schwer anzweifeln. Die amerikanischen Lexika und Jazzbücher korrigierten ihren Armstrong-Eintrag in der nächsten Auflage, während in Deutschland kaum jemand Notiz von der Entdeckung nahm. Bis heute erscheinen hierzulande Bücher, die Armstrongs Geburtsdatum mit dem 4.7.1900 angeben, und die deutsche Ausgabe von Giddins’ Biografie ist bereits nicht mehr erhältlich. Für die deutschen Jazzfans – wie für viele amerikanische Bürger heute und vor 30 Jahren – gehört Armstrongs falsches Geburtsdatum zum Allgemeinwissen. Das Allgemeinwissen kann irren: Als Armstrong starb – am 6. Juli 1971 –, war er nicht 71, sondern erst 69 Jahre alt.