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Pop, der "funktioniert", ist stets mehr als nur Musik; nämlich eine medial vermittelte Lebensform. Er stellt hoch artifizielle "role-models" für die bereit, die sich in ihrem eigenen Dasein entfremdet und leer fühlen und nach einer synthetischen Identität suchen.
Zeit spielt im Pop eine entscheidende Rolle, und zwar auf paradoxe Weise: entweder als Versprechen oder trotziges Behaupten eines "forever young" oder als pathetische Feier der Spuren, die das Leben hinterlässt, als Apotheose der "Erfahrungen", die man wohl oder übel macht. Immer aber ist Pop, dessen Verfallsdatum über den Tag hinausreicht, der also nicht nur zum raschesten Verzehr bestimmte Saison-Ware ist, Mythos: eine Geschichte, die sich in Varianten immer wieder erzählen lässt.
Marianne Faithfull verkörpert die verschiedenen Möglichkeiten von Pop auf exemplarische Weise und weil sie schon lange dabei ist und in dieser Zeit viel passiert ist, wurde sie zur Ikone. Ihr innerstes Wesen rutscht, scheinbar zumindest, in die Erscheinung; es wird sichtbar und heilig gesprochen.
Eine vielfach verrutschte Karriere als biographisches Muster. Die "Klosterschülerin" wurde in den Swinging Sixties zum Rockband-Groupie, das beides war: feenhaft und drastisch, ein "blonder Engel mit großen Titten", wie sie der Stones-Manager Oldham im Jargon der Zeit klassifizierte. Mick Jagger und Keith Richard schrieben für sie "As Tears Go By", einen Welt-Hit, der zum ewigen Bestand gehört. Damals gab sich die Rock-Musik gern vitalistisch; sie war Sex und/oder Revolte.
Die 17-jährige Marianne Faithfull deutete diese Teenie-Identitäten nur vertrackt an, ließ sie halb im Dunklen, zelebrierte sie auf höchst zarte und zerbrechliche Weise und mischte sie mit Melancholie. So wurde sie mit einem Song zur Kult-Figur. Später lernte sie dann, hautnah, die härteren Seiten der bohemienistischen Daseins-Experimente kennen: die neue Liebesunordnung trieb sie halb in den Wahnsinn, der extreme Rauschgift-Konsum nah an den Ruin.
Als sie Ende der 70er-Jahre zurückkehrte, war sie nach Pop-Maßstäben "alt". Ihr neuer Triumph beruhte darauf, dass sie die Gefährdung und Gebrochenheit ihres Daseins rückhaltlos zum Thema machte. Pop ist auch das Medium, das erfahrenes Elend adelt wie kaum etwas sonst. Das Zauberwort heißt: Authentizität. Was eben noch Extrem der eigenen Existenz war, wird jetzt bei Marianne Faithfull Inszenierung. Sie hat ihre Rolle gefunden. Und ihre Stimme ist so düster-charismatisch und untergründig-erotisch wie die Botschaften, die sie verkündet.
Seit "Broken English" ist sie die Pop-Variante des "Je ne regrette rien", des "Ich-kann-und-will-auch-nicht-anders". Sie feiert, seit der "Ballad of Lucy Jordan", die Ausbrüche, auch wenn sie misslingen und peinlich sind und nur eine Spur der Verzweiflung hinterlassen. Sie erkennt noch in den Verlusten, von denen sie heftiger und nachhaltiger erzählt als jede andere, vor allem das "Negativ" der Sehnsüchte und Ambitionen, die letztlich ein Leben ausmachen.
Zwischendurch hat sie sich der Tradition zugewandt, in der sie ihre eigenen Songs sieht: dem "20th Century Blues", aber auch, ein wenig "artsy" vielleicht, Brecht/Weills "Sieben Todsünden".
Anno 1999 ist sie mit einem "eigenen" Album, das sie in der denkbar klarsten Form zeigt, zurück: als Vagabundin der Liebe, als Treibgut der eigenen Lebensgeschichte. In einer Gesellschaft der neurotischen "Sieger" und Spaßhaber singt sie "loser"-Songs – und bleibt gerade darin souverän und verführerisch. Schon im Titelsong "Vagabond Ways" beschreibt sie ihr eigenes Leben als Geschichte der Hingabe, ja Verfallenheit, als rauschhaftes Dasein auf "Crash"-Kurs und sie tut es, in bester Pop-Tradition, in der Form einer verruchten Beichte, die an Besserung gar nicht denken lässt: "Oh, doctor, please". Und in einer Leonard-Cohen-Cover-Version ("Tower of Song"), der hier unversehens als ihr nicht minder erotischer und gefährdeter Schattenbruder erscheint, denkt sie über ihre eigene Kunst nach: katastrophisch, knechtend, voller "Kos-ten" und doch so unentbehrlich wie das Leben, das sie geführt hat.
Wunderbares Album, sieht man einmal von dem bekennerhaften "After The Ceasefire" ab, das allzusehr einer verbrauchten Jazz-und-Lyrik-Feierlichkeit verfällt.
Helmut Hein
Marianne Faithfull: Vagabond Ways, Virgin 1999