Womöglich gibt es so etwas wie den „genius loci“. Bayreuth umgibt so eine Aura. Und seit einigen Jahren leuchtet dergleichen auch in Wuppertal – dem NRW-Städtchen, das sich Pina Bausch 1979 zum Lebens- und Schaffenszentrum gewählt hat. Nach vorangegangenen Wiedereinstudierungen lockt nun ein weiteres ihrer zentralen Tanztheater-Werke an die Wupper.
Abgründiges Kontakt-Wesen Mensch – Überwältigende Wiederbelebung von Pina Bauschs Meisterwerk im Theater Wuppertal
Jacques Derrida hielt fest: „Man erbt immer ein Geheimnis – ‚Lies mich!’ sagt es. Wirst du jemals dazu imstande sein?“ Das umreißt seit Jahren den Ansatz des Tanztheaters Wuppertal-Pina Bausch. Nun wieder, denn „Kontakthof“, eine ihrer berühmten Kreationen vom Dezember 1978 wurde wiederbelebt. Ein vielfältig nachwirkendes Erbe, denn Pina hat das Stück, jeweils mit fast einem Jahr Proben, auch im Jahr 2000 für „Damen und Herren über 65“ und 2008 für „Jugendliche ab 14 Jahren“ einstudiert (alles auf DVD greifbar). Jetzt wirken fünf Solisten aus Pinas Einstudierungen mit – und Premiere wie Zweitaufführung wurden bis in die Ränge des Opernhauses hinauf mit standing ovations gefeiert.
Jeder Mensch drückt sich dauernd aus, einfach indem er ist. Wenn man dies liest, ist alles sichtbar – vom Kindergarten über Schulhof, Spielplatz, Tanzstunde, Verein, Ballsaal, Club, Meeting, gipfelnd in Präsentation, Vorführung oder Modenschau – überall … und natürlich im Theaterauftritt … vom aktuellen Posing in den a-sozialen Medien zu schweigen.
1978 und später hat Pina Bausch all dies noch ohne unsere digitale Dating-Welt „gelesen“ und dann geformt: diese schier unsterbliche Spirale aus Hoffnungen und Sehnsüchten, Attitüden und Zusammenbrüchen, Allein- und Geborgensein, Auftrumpfen und Scheitern, Glück und Verzweiflung. Im natürlich unveränderten weißen Ball- oder Theatersaal von Rolf Borzik sitzen auf schwarzen Stühlen diese 21 Menschen – und dann kommt die wunderbar gereifte Frau Julie Shanahan nach vorne; sie wird so etwas wie das visuell reizvolle Nervenrückgrat, von dem und um das sich viele Erzählepisoden entwickeln; zunächst führt sie erste Attitüden des „Sich-Präsentierens“ vor: Haare, Zähne, Hände, Haltung. Dem folgen weitere „Ladies“ unterschiedlichen Alters und internationaler Herkunft … im Abgehen blickt die gertenschlanke Claudia Ortiz Araiza süß herausfordernd über die Schulter und bekennt, dass sie aus Paris kommt; dagegen setzt ihre kleine, figürlich frauliche Kollegin, dass sie aus Hamburg stammt und verheiratet ist. Dann präsentieren sich die Männer und als die ganze Truppe im gleichen Winkelschritt von hinten antanzt, ist nicht nur Perfektion, sondern auch Uniformität all unseren vermeintlich differenzierten Verhaltens zu erleben.
Was dann über gut 100 Minuten im ersten Teil und dann noch eine kurze Stunde nach einer Pause folgt, sprengt jede kritisch-analytische Darstellung durch seine buchstäbliche und damit fast erschlagende Fülle an Nuancen, mal insistierenden, mal differenzierenden Wiederholungen und einer immer und immer wieder bezaubernden Bewegungs-Tanz-Expression jeder der 21 Menschen auf der Bühne. Das liegt sowohl am dominierenden Tango-Rhythmus, aber auch an der herrlichen Schmäh-Musik aus den 1930er-Jahren, wenn mit leisem Schellack-Kratzen Rudi Schuricke von „Frühling und Sonnenschein“, Leo Monosson „Ich bin nicht der Erste … aber der Letzte könnte ich sein“ oder Kurt Hardt von „Rosengarten“ singen. Dazu blühen mal die kleine Einsamkeit wie das kleine Glück. Doch dann donnert plötzlich der wilde „J.D.-Boogie-Woogie“ los, die Männer sitzen wie in der ersten Tanzstunde links, die Mädels stehen rechts aufgereiht – und mit wild begehrenden Händeflattern rutschen die Mannsbilder auf die sich begehrlich und ängstlich räkelnden Mädels zu – eher eine Horrorkabinettszene. Viel später erstarren diese Männer mit verschiedensten, aber hohlen Umarmungsgesten, in die Frauen sich in rasanten Wechseln einfügen, kurz und länger verweilen und wieder davoneilen. Doch durch den ganzen rasanten „shortcut“-Fluss zieht sich, dass viele kleine Gesten hart, kantig, schließlich aggressiv und verletzend ausarten und der weibliche Körper vom Objekt zum Opfer wird.
Kontrastierend tanzen wiederholt Julie Shanahan und die mediterran schöne Maria Giovanna delle Donne als zwei schleierumspielte Blumenmädchen geziert und gestylt durch den Raum – und alle Film-Erinnerungen an die formidablen Ziegfeld-Follies scheinen ad absurdum gehopst. Doch „Sag mir, wieviel Sternlein stehen“-Solo und „My Bonnie lies over the Ocean“-Chor können weder die Ohnmachten noch eine Selbstmord-Vorführung noch die zunehmende Gewalt, die immer wieder umher liegenden Frauenkörper verdrängen – und plötzlich schießt dem mitdenkend-fühlenden Zuschauer unsere aktuelle Zahl von über 350 Femiziden jährlich durch den Kopf … alles Tanztheater reicht in die Gegenwart.
Zu erleben ist ein schön erschreckender, künstlerisch messerscharf sezierender Abend mit „Pina von 1978“, überwältigend gipfelnd in und als „zukunftsoffene Zeitgenossenschaft“.
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