Die erste von acht Uraufführungen beim diesjährigen Lucerne Festival
fand nicht im futuristischen KKL (Kultur- und Kongresszentrum Luzern) statt, sondern im „Le Chalet“, dem Tanzsaal des Luzerner Casinos. Schlichte holzverschalte Wände, eine Empore im Stil eines alpenländischen Balkons, kleine Schweizerfähnchen statt der Geranien vor Butzenfenstern. In einem Schweizer Casino, so scheint es, hat selbst das Laster der Spielsucht noch biedermeierliche Züge. Auch was sich auf dem Podium abspielte, wirkte schweizerisch-harmlos, ja volkstümlich. Doch dieser erste Eindruck täuschte: Das Volksmusik-Ensemble Oberwalliser Spillit bot an diesem Abend ein augenzwinkerndes, charmantes, aber dennoch künstlerisch höchst seriöses Meeting von E-Musik und Volksmusik.
Den Werktitel samt einem Einführungstext fürs Programmheft hatte Globokar nachträglich erfunden, die szenisch angelegte Musik sprach jedoch für sich selbst. Die Oberwalliser Musiker (sehr überzeugend Klarinettist Elmar Schmid und Hackbrettspielerin Sabine Gertschen), denen das Stück „auf den Leib“ komponiert wurde, brachten neben ihrem üblichen Instrumentarium wie Klarinette, Hackbrett, ein Flaschenklavier, ein Streich-Psalterium und Marimbaphon auch außermusikalische Mittel zum Einsatz. Da wurde mit Skiern im Takt gegangen, Reiskörner raschelten, man hämmerte, dirigierte mit einer Sense oder klopfte Steine. Das Stück wäre kein echter Globokar, wenn diese Aktionen im Konkreten, im Volkstümlichen blieben und nicht von ihm zu einer paradoxen Textur aus Klang, Rhythmus und szenischer Aktion gefügt worden wären. Zieht man die regionalen Bezüge ab (Globokar kommt ursprünglich aus Slowenien, einer Gegend, die dem Wallis diametral am anderen Ende der Alpen gegenüber liegt) dann bleibt modernes Musiktheater, freilich in Westentaschen-Format. Jürg Wyttenbachs „Gargantua – Szenen nach Rabelais“ rundete diesen erfreulichen Walliser Abend ab.
Was geschieht eigentlich zurzeit in Luzern? Sind das noch die traditionsreichen Internationalen Musikfestwochen? Viel ist dort in Bewegung geraten, angefangen bei der Namensgebung: Michael Haefliger, seit drei Jahren als Intendant in Luzern, gab dem Festival den neuen Namen Lucerne Festival. Das ist nicht nur Kosmetik und Marketing, es signalisiert auch inhaltliche Neuorientierung. Haefliger verdoppelte das Budget für die Moderne, stellte das Festival Jahr für Jahr unter neue Thematiken – dieses Jahr steht der Prometheus-Zyklus im Vordergrund – und kommt so zu anspruchsvollen, durchkomponierten Programmierungen.
Eine Revolution findet im innerschweizerischen Luzern deshalb noch lange nicht statt. Doch alle Programmbereiche werden sanften, aber nachhaltigen Reformen unterzogen. Der wachsende Anteil der Moderne wird vernetzt mit den anderen Reihen. Die alpenländisch angehauchte Eröffnung war nur Auftakt für die Lucerne Moderne Reihe 2001: Dort sind international tätige Komponisten wie Heiner Goebbels, Beat Furrer, Philippe Hurel, Joji Yuasa, Andrea Scartazzini und Philppe Racine zu finden. Nicht zu vergessen die beiden Composer in Residence, die sich Luzern jährlich „leistet“: dieses Jahr Elliott Carter und Hanspeter Kyburz.
Die Sinfoniekonzerte sind nach wie vor das Aushängeschild für Luzern: Für sie gibt es jetzt den Konzertsaal mit seiner phänomenalen Akustik und seiner großartigen Architektur. Hier geben sich Pultstars und Solisten mit höchstem „Marktwert“ die Klinke in die Hand. Noch immer sind Eintrittskarten für die Starkonzerte nur schwer zu bekommen: Große Kartenkontingente nehmen wie bisher die Sponsoren in Anspruch. Doch auch hier ist vieles in Bewegung geraten. Im Gegensatz zu Salzburg, wo Gérard Mortier im „Zeitfluss“-Festival die Moderne pflegte, aber letztlich auch ins Zelt abschob, integriert Haefliger sie stärker ins Konzertprogramm.
Charles Dutoit dirigiert Toru Takemitsu, Daniel Barenboim eine Uraufführung eines Werkes von Hanspeter Kyburz. Auch Anne Sophie Mutter ist „modern“, dieses Mal mit einer Uraufführung eines eher harmlosen Tangostückchens von André Previn. Ein Höhepunkt des Festivals war sicher die Schweizer Erstaufführung von Luigi Nonos „Prometeo – Tragedia dell’ascolto“ mit dem Ensemble Modern unter Ingo Metzmacher sowie mit André Richards authentischer Klangregie. Was das Lucerne Festival noch bietet: Symposium, Meisterkurse oder Konzerte für Kinder muss gelegentlich an anderer Stelle beleuchtet werden.
Mit dem „Remix Beethoven“ verschließt man sich nicht länger dem zeitgeistigen Event: Während Claudio Abbado im Saal mit den Berlinern Beethoven gibt, soll vor dem KKL ein Happening stattfinden, in das die Besucher der sinfonischen Konzerte nach dem Ende der Aufführung mit einbezogen werden. Konzerte an Orten wie dem idyllischen Löwendenkmal oder dem Casino im Hotel National strahlen in die Stadt hinein. Es blieb aber unverständlich, warum man große Namen wie Elena Bashkirov, Boris Pergamenschikov oder Pascal Moraguès in die schwierige Akustik der Matthäuskirche verbannte.
Auf die Unterseite des beinahe 50 Meter in den See hinausragenden KKL-Flügeldaches ist groß das Logo des diesjährigen Festivals projiziert: ein „Achtung Bauarbeiten“-Schild. Es soll das Symbol sein für das Thema des Festivals: „Schöpfung“. Es ist aber genauso Symbol für den Prozess, in dem das Lucerne Festival gerade steckt: „Achtung, Festival-Umbauarbeiten!“