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Kurt Weills „Silbersee“ ist in Frankreich angekommen. Foto: © Jean-Louis Fernandez

Kurt Weills „Silbersee“ ist in Frankreich angekommen. Foto: © Jean-Louis Fernandez 

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Albtraum Zukunft – Ersan Mondtags spektakuläre Inszenierung von Kurt Weills „Silbersee“ ist in Frankreich angekommen

Vorspann / Teaser

Der ehrgeizig aufstrebende Gesamtkunstwerker Ersan Mondtag (*1987) ist kein Opernneuling mehr. Mit seinen Arbeiten im Schauspiel ist er bekannt geworden. Auf seinem Verzeichnis mit Operninszenierungen stehen neben dem „Silbersee“ Schrekers „Der Schmied von Gent“ (2020 in Gent), Webers „Freischütz“ (2022 in Kassel), Marschners „Vampyr“ (2022 in Hannover) und Langgaards „Antikrist“ (2022 in Berlin). Wobei die Ballung im Jahr 2022 ein Corona-Nachholeffekt war. Gerade vertritt er Deutschland in Venedig mit einer Arbeit für den Deutschen Pavillon bei der gerade eröffneten Kunstbiennale … 

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Einer seiner Hingucker in der Welt der Oper, der aktuell immer noch (bzw. wieder) Furore macht, ist Kurt Weills wenig bekannter „Silbersee“. Bertolt Brecht ist hier nur im Geiste dabei. Das Libretto stammt vom expressionistischen Erfolgsdramatiker Georg Kaiser (1878–1945). In Leipzig (sowie in Erfurt und Magdeburg) wurde das Stück wenige Tage nach der Machtergreifung der Nazis 1933 zwar noch uraufgeführt, aber kurz darauf, nach der 16. Vorstellung, verboten. Es war die letzte Weill-Premiere bevor der Komponist im März 1933 Deutschland verließ und ins Exil ging. Heute braucht es Ausgrabungsehrgeiz, um es neben der „Dreigroschenoper“ oder dem „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ auf die Bühne zu bringen. Ersan Mondtag hat mit einer überbordend phantasievollen Inszenierung dafür gesorgt, dass seine Auseinandersetzung damit nicht zu überhören und vor allem nicht zu übersehen ist. 

Die Flamen hatten dabei 2021 das Recht der ersten Nacht; die coproduzierende Opéra national de Lorraine in Nancy hat diese Produktion jetzt zur Premiere gebracht und demonstriert, dass es auch heute noch ein Theaterereignis von Rang ist: Verrückt und phantastisch, mit der Vorlage ausgiebig (wort-)spielend, aber doch auf die Songs und den Orchestersound vertrauend, wirkt alles überraschend frisch. Dass die Musik Kurt Weills keine Nebensächlichkeit ist, sondern ihren Platz in der Moderne hat, machen Gaetano Lo Coco und das Orchester der Opéra national de Lorraine mit Verve und Leidenschaft ebenso unmissverständlich klar wie die Protagonisten, wenn sie denn singen und nicht nur (ziemlich professionell) sprechen. Für den Dirigenten ist Kurt Weill einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, dessen Werk im Vergleich zur sogenannten Avantgarde der zweiten Wiener Schule, stark unterschätzt und als zu einfach angesehen wurde (so Lo Coco im Programmheft). Und das demonstriert mit einem so pointierten, wie zügigen Dirigat, das durchweg Ernsthaftigkeit und Moderne der Komposition beglaubigt.

Mit den Waffen der Phantasie

Die Inszenierung lädt das Werk mit einer Brisanz auf, weil sie die Wirklichkeit (der Entstehungszeit 1933 und von heute) von einem in die nahe Zukunft des Jahres 2033 verlegten Reich der Phantasie aus treffsicher aufs Korn nimmt. Nicht plakativ direkt, sondern mit den Waffen der Phantasie und als eine Kunstanstrengung, die auch die Geschichte als solche in gut Brechtscher Manier verfremdet vorführt.

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Kurt Weills „Silbersee“ ist in Frankreich angekommen. Foto: © Jean-Louis Fernandez

Kurt Weills „Silbersee“ ist in Frankreich angekommen. Foto: © Jean-Louis Fernandez

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Die Protagonisten sind auf der Bühne mit dem Projekt „Silbersee 33“ beschäftigt, mit dem sie versuchen, gesellschaftliche Gefährdungen, die 100 Jahre nach der Uraufführung (und des Verbotes) wieder drohen, in einer Theateraufführung zu thematisieren. Mit immer neuen Ansätzen, die sie aber wieder verwerfen. Im Ergebnis dieser Versuche ist man mitten in der Geschichte, der man Herr zu werden versucht hat; bricht aber auch da immer wieder aus und stellt sie infrage.

In der Vorlage bekommt der preußische Polizist Olim Gewissensbisse, weil er auf den flüchtenden Ananas(!)-Dieb Severin geschossen hat. Als Olim in der Lotterie ein Schloss am Silbersee gewinnt, nimmt er (ohne zu verraten warum) das Opfer auf sich, ihn zu pflegen. Bei Mondtag wird diese Geschichte als Zukunftstheater inszeniert, was der Bühnen-Phantasie alle Türen öffnet. So spielen gendefekte Lemuren, Krankenpflegeroboter und auch die Bühnenarbeiter mit. Hier leben die intriganten Frauen ihre Ägyptomanie aus. Die Drehbühne erlaubt den schnellen Wechsel von der Bühne auf der Bühne zum opulenten Inneren des Schlosses oder in eine Halle mit riesigen Säulenheiligen einer wohl untergegangenen postmodernen Welt.

Dass die Geschichte bei allen Brechungen ihre eigene Vitalität entfaltet, liegt daran, dass sie auch in Nancy zur Hälfte eine Benny-Claessen-Show ist. Wie bei diesem Sonderfall von Vollblutmimen, Comedian und Selbstdarsteller üblich, ohne eingebaute Bremse. Er verkörpert als Olim nicht nur eine Hauptrolle im Stück, sondern okkupiert es mit seiner extrovertierten Präsenz insgesamt. Claessen-Fans sind da klar im Vorteil. Joël Terrin hält als der Severin, den Olim mehr als nur gesundpflegen will, voll mit. Er wird vom arabischen Extremisten, der auf die Bühne stürmt, dem Kranken im Rollstuhl, über eine Art heiliger Sebastian zum pink ausstaffierten Liebhaber Olims im schwarzen hautengem Neopren-Fetisch Anzug. Aus dem spielfreudigen und sprachversierten Ensemble ragt Nicola Beller Carbone als Madame von Luber heraus. Der Tenor James Kryshak ist sowohl ein überzeugend extravaganter Lotterieagent, der das erste Mal im fulminanten Schloss-Outfit auftritt und sich dann in der Rolle des Baron Laur in einem Kostüm der Pekingoper selbstverliebt mit der ebenfalls so kostümierten Frau Luber an einer Festtafel über den ausgebotenen Olim triumphiert.

In Nancy gab es auch bei der gut besuchten zweiten Vorstellung einhelligen Beifall für dieses Theaterereignis der besonderen Art.

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