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Vincent Wolfsteiner (Paul), Tänzerinnen. Foto: © Stephan Walzl

Vincent Wolfsteiner (Paul), Tänzerinnen. Foto: © Stephan Walzl

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„Alles kalt und gespenstisch“ – Korngolds geniale Oper „Die tote Stadt“ in Oldenburg

Vorspann / Teaser

„Hier ist alles kalt und gespenstisch“: die Haushälterin Brigitta sagt es gleich am Anfang von Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“. Diese ist nach ihrer Uraufführung 1920 die erfolgreichste Oper des Jahrhunderts gewesen, sie wurde an damals achtzig (!) Bühnen in aller Welt nachgespielt. Die Musik des 22-Jährigen Komponisten ist ein genialer Verschnitt aus Debussy, Puccini, Richard Strauss. Der jugendstil-symbolistische Inhalt: Paul hat sich, weil er mit dem Tod seiner geliebten Marie nicht fertig wird, ein Zimmer mit Namen „Kirche des Gewesenen“ eingerichtet. Dort pflegt er in einem kleinen Kästchen ihr Haar, ihren Schal und ihre Laute. Dann verfällt er der Tänzerin Marietta, die der Verstorbenen aufs Haar gleicht und erdrosselt sie im Traum.

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Was will aber die morbide, kränkelnde Story aus der toten Stadt Brügge, in der nichts anderes als die Vergangenheit verehrt wird, uns heute noch sagen? Am Staatstheater Oldenburg gelang dem Regisseur Christoph von Bernuth und dem Dirigenten Hendik Vestman nun eine schlanke und nachvollziehbare Version von Pauls Trauma, die auf Pauls Erkenntnis basiert: „Ein Traum hat mir den Traum zerstört, ein Traum der bitteren Wirklichkeit, der Traum der Fantasie. Die Toten schicken solche Träume, wenn wir zu viel und mit ihnen leben“.

Diesen, auch von Sigmund Freud beschriebenen Prozess sehen wir in Oldenburg in einer mitreißenden tiefenpsychologischen Auseinandersetzung, für die Bernuth einfache, aber präzise Bilder erfindet. Auch der Zuschauer weiß oft nicht, ob Marietta ein Traum oder eine Wirklichkeit ist: Bernuth bewegt die Personen immer ambivalent bis zu der realistischen Eheszene, in der Marietta mit der toten Marie abrechnet.

Das unterirdische Zimmer ist begrenzt mit hohen grauen Mauern, deren Grenzen sich durch vorzügliche Lichtregie (Bühne und Licht: Oliver Helf) verändern. Als Requisiten gibt es dort nur Maries Porträt, den kleinen Kasten mit Maries Haar, eine Laute und einen Schal. Die tote, stumme Marie ist immer anwesend (Nathalie Klien) und wird so umso mehr zur realen Rivalin der neu entdeckten Marietta, die mit ihrer künstlerischen Tanzwut alle mitreißt, Paul allerdings nicht überzeugen kann. Er beschimpft sie, die ihre Zuneigungen großzügig in ihrer Tanztruppe verteilt, übel als leichtfertig. Und er wird verfolgt von sechs Mariettas gleichzeitig.

Vincent Wolfsteiner bewältigte die tenorale Monsterpartie überragend. Man konnte mit seiner verkorskten Psyche durchaus Mitleid bekommen, auch in der heiklen, hier geschmackvoll gemachten Szene des Zuges einer katholischen Prozession. Sara Gartland als Marietta war ihm eine stets spannungsvolle Partnerin, deren Riesengesang bis auf wenige Stellen – manchmal zu viel Vibrato – ebenfalls mehr als zufriedenstellte. Ann-Beth Solvang als Brigitta und Kihun Yoon als pragmatischer Freund Frank vollendeten die solistische Truppe ebenso wie Leonardo Lee als trauriger Pierrot aus der Ballettruppe, der Marietta angehört.

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Vincent Wolfsteiner (Paul), Sara Gartland (Marietta/ Marie), Nathalie Kien (im Hintergrund; Marie (Pantomime)). Foto: © Stephan Walzl

Vincent Wolfsteiner (Paul), Sara Gartland (Marietta/ Marie), Nathalie Kien (im Hintergrund; Marie (Pantomime)). Foto: © Stephan Walzl

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Und dann diese wahrlich gewaltige Partitur des 22jährigen, als Genie bezeichnet von Gustav Mahler, verehrt von seinem Lehrer Alexander Zemlinsky, von Giacomo Puccini als „die stärkste Hoffnung der neuen deutschen Musik“ bezeichnet. Sie zerfetzt, sie malt, sie hofft, sie tröstet, dass sie angesichts der Wiener Schule irgendwie bombastisch gestrig ist, ist kein Einspruch gegen ihr unfassbar hohes Niveau, das Vestman und Oldenburgische Staatsorchester ebenso ehrfürchtig wie andachtsvoll als den emotionalen Haushalt Pauls zelebrierten.

Natürlich ist ein solches Werk – sowohl vom Sujet als auch vom musikalischen Stil her, dessen Überdruck man sich kaum entziehen kann – immer auch Geschmackssache: Den Oldenburger:innen gefiels: lang anhaltender und begeisterter Beifall.

Die nächsten Aufführungen von „Die Tote Stadt“ im Oldenburgischen Staatstheater: 1., 14., 22., 27. und 30. Dezember; sowie 7.1., 25.1. und 28. Januar 2024

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