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ORESTEIA von Iannis Xenakis, Deutsche Oper Berlin, Premiere am 9.9.2014, Foto: copyright: Bernd Uhlig
ORESTEIA von Iannis Xenakis, Deutsche Oper Berlin, Premiere am 9.9.2014, Foto: copyright: Bernd Uhlig
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Atriden-Digest open air im Parkhaus – „Oresteia“ von Iannis Xenakis an der Deutschen Oper Berlin

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Das Schauspiel hat es vorexerziert: wozu das attische Theater drei Tage, Peter Stein an der Berliner Schaubühne drei volle Abende benötigte, das hat Michael Thalheimer am Deutschen Theater Berlin auf eine pausenlose Abfolge von anderthalb Stunden zusammengestrichen. Und Iannis Xenakis unterbietet die Aufführungsdauer als Musiktheater mit gerade einmal einer Stunde. Was bleibt bei einem solchen Digest von Aischylos’ Trilogie aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. übrig?

Der 2001 in Paris verstorbene, griechische Komponist hat seine 1966 entstandene Schauspielmusik zunächst in eine Konzert-Suite umgeformt und dann bis 1992 um verschiedene Teile zu einem amorphen Opernabend erweitert. Seine Praxis, die Verse des Choros in antiker Phonetik skandieren zu lassen und den Rhythmus mit archaisch chaotischen Klängen zu untermauern, führte Xenakis dabei zu Ergebnissen, die mehr als einmal an Carl Orffs „Prometheus“ gemahnen, verstärkt noch durch den Gebrauch der Originalsprache, das Altgriechisch.

Mit nicht temperierten Skalen, mit in Zwölfteltonschritte unterteilten Quarten und den sich daraus ergebenden Viertel- und Dritteltönen, versucht der Komponist eine eigenwillige Rekonstruktion des Klanges im attischen Theater. Die Aulos-Klänge werden durch hohe Passagen von Oboe- und Es-Karinette nachempfunden. Dem antiken Instrument des griechischen Theaters kommt die Rekonstruktion des Psalterion besonders nahe. Der Chorduktus ist dem der der byzantinischen Kirchenmusik verwandt, bei Xenakis allerdings in getriebenem Tempo.

Von Georg Glasl auf dem Psalterion begleitet, singt, schreit und flüstert der Bariton Seth Carico, die Stimme der Kassandra im Falsett und in Baritonlage die des mit der Seherin dialogisierenden Choros. Die originelle Rollenschöpfung der Kassandra entspringt den sich öffnenden Blüten einer metallischen Frucht. Er/sie/es tanzt mit einem Lendenschurz, wie ein zweiter Jesus, rhythmisch stampfend in einem spritzenden Blutbecken. Aus einem Schlauch trinkend, berauscht sich der Choros an diesem Blut.

Vielen Besuchern dürfte es unklar geblieben sein, warum Herren- und Bewegungschor in der Berliner Erstaufführung der in den Jahren 1966 bis 1992 entstandenen Oper mit Schafsohren als Böcke agierten. Im antiken Griechenland, bei den ältesten Festspielen der Welt, traten der Chor der Priester im Gewand von Böcken (griechisch: Tragoi) auf, woher sich auch der Name der Kunstform, Tragödie herleitet. Böcke und Schafe schwirren durch die Reihen der auf langgestreckten Holzblöcken auf dem Bodes des offenen Parkhauses, unter freiem Himmel positionierten Besucher.

Stumm bleiben bei Xenakis hingegen Protagonos und Deuterogonos. Als Großkopfete agieren jeweils zwei Tänzerpaare: Agamemnon (Raffael Hinterhäuser) und Klytämnestra (Jennie Gerdes), Elektra (Sofia Pintzou) und Orest (Alexander Fend) bewegen sich unter schwarz gebrannten, übergroßen Köpfen puppenhaft. Die Stimmen von Elektra und Orest sind auf kleine Chorgruppen verteilt.

Da die Obermaschinerie der Deutschen Oper erneuert wird, wurde die Not zur Tugend: Regisseur David Hermann inszenierte dieses Musiktheater in dem zum Hinterhof des Atridenpalastes umfunktionierten Innenhof des Parkdecks (Ausstattung: Christof Hetzer) im Sinne des Komponisten als ein „totales Theater“.

Stufen führen zur hoch gelagerten Skene. Im Gegensatz zur zentralen Position des Palasttores im griechischen Theater ist dieses, standortbedingt, auf die rechte Seite der Szene verlagert, denn die gigantischen Türflügel zum Kulissenmagazin lassen sich elektrisch, quasi magisch öffnen und schließen.

Das über die Steine schleifende Beil der Elektra wird zum Bestandteil der Musik, ihr sich Schlagen im Stile von Pina Bausch zu einem archaischen Bewegungsritus. Der Intention des Komponisten folgend ergibt sich ein Bogenschlag zum japanischen Kabuki- und No-Theater. Streng getrennt sind die Chöre. Die Damen, in weißen Gewändern und blondgelockt, rufen aus fünf Fenstern im zweiten Stock auf der Seite des Karrees den Orest als Rächer herbei.

Nach dem Tod Kassandras rütteln sie am trennenden Zaun, später kämpfen sie als Erinnyen gegen die mit Klatschen und Stöcken bewaffneten Herren. Am Ende wird den Erinnyen selbst Ruhe gewährt; ein fester Wohnsitz in Athen macht sie zu Eumeniden, zu Wohl-Meinenden.

Zum Schlusstableau ergänzt sich, unsiono, mit einstimmig choralartigem Gesang, der Kinderchor, mit silbern verspiegelten Fähnchen. Und die erste Bürgerschaft nach dem überwundenen archaischen Blutbad zieht zum Zeichen der neuen, menschlichen, Rechtsordnung, gelbe Krägen über.

Ein goldener Bagger kippt Steine und die Axt für Elektra auf die Stufen und spannt so, wie später die Autohupe der in einer schwarzen Staatskarosse langsam durch die Mitte des Publikums zur Bühne fahrenden Athene, den Bogen zur Gegenwart. Deutsche Übertitel werden auf die Rückwand projiziert, später auch die Ansprache der Athene aus dem schwarzen, fahrenden Mercedes. Die Göttin Athene gestaltet Michael Hofmeister ebenfalls im Wechsel schneller, drei Oktaven umfassender Passagen zwischen hoher Sopran- und Baritonlage.

Überzeugend agieren und singen die von William Spaulding einstudierten Chöre mit Andrew Harris als Chor-Anführer und der von Christian Lindhorst sichtbar im Spiel geleitete Kinderchor. Das Kammerorchester mit Solocello, Bläsern und umfangreichem Schlagwerk, leitet Moritz Gnann beherzt und mit gebotener Verve.

Xenakis’ Mischung aus Chören, Sprechtexten, Gesangsmonologen und instrumentaler Musik, zu einem Amalgam aus antiker Musiktheorie, byzantinischer Kirchenmusik und aus musikalischer Avantgarde, vermochte das Premierenpublikum voll zu überzeugen: Einstimmiger Zuspruch für ein ungewöhnliches und ungewöhnlich dargebotenes Musiktheater als Saisonauftakt der Deutschen Oper Berlin.

  • Weitere Aufführungen: 12., 13., 15., 16. September 2014.

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