Norah Jones: Wer hätte gedacht, dass man ausgerechnet diesem Namen auf einem musikwissenschaftlichen Kongress in Deutschland mehrmals begegnen würde. Gerade mal zwei Jahre nach dem Sensationserfolg ihres Debütalbums kam dieses Fräuleinwunder einer als Jazz vermarkteter Musik schon zu der Ehre Gegenstand der Forschung zu werden.
So klärte der Musikethnologe Lars-Christian Koch in seinem interkulturellen Vergleich darüber auf, wie die Sängerin in Indien analog zu den Stars der klassischen indischen Musik über ihre „garana“, die von der Lehrer-Schüler-Beziehung geprägte Traditionslinie vermarktet werde. Dass sich die Tochter Ravi Shankars ausdrücklich von ihrem Vater und dessen Musik distanziert hatte, spielte dabei keine Rolle, der konstruierte Mechanismus griff dennoch, bis in die Einordnung ins entsprechende Regal eines CD-Ladens hinein.
Einen anderen Blickwinkel nahm Monika Bloss ein, die Jones als Vertreterin einer neuen Natürlichkeit im Umgang mit der Stimme deutete. In Abgrenzung von den Verfremdungen und Maskierungen einer Madonna sei bei ihr der Bruch zwischen Körper und Stimme gekittet, ohne dass damit notwendigerweise die Rückkehr zu einem konservativen Frauenbild verbunden sei. Man könne ihr das offen zur Schau getragene Understatement bei der Einordnung ihres Erfolges durchaus abnehmen, wenn sie sage, sie präsentiere Musik und nicht sich selbst.
„Der Musikstar. Konstruktion oder Persönlichkeit?“ hieß das eine, „Stimme und Geschlechteridentitäten“ das andere Symposionsthema, das Raum für derlei Reflexionen bot, und die Bandbreite der nicht immer gleichermaßen plausiblen methodischen Zugriffe machte deutlich, welch unterschiedliche Herangehensweisen das Kongressmotto „Musik und kulturelle Identität“ herausgefordert hatte. Die starke Präsenz von Vertretern anderer Fachrichtungen (Geschichtswissenschaften, Soziologie, Mathematik, Medizin et cetera) unterstrich den Anspruch, die Musikwissenschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts endlich da zu verorten, wo sie schon seit einigen Jahrzehnten hingehörte: ins Zentrum der Kulturwissenschaften und nicht an deren philologischen Randbezirk. Bei der professionellen Außenwirkung der mit über 700 Teilnehmern fast schon gigantomanen Veranstaltung konnte man gar den Eindruck gewinnen, das Fach, das an manchen Universitäten mit dem Rücken zur Wand steht, könne in Wahrheit vor Kraft nicht laufen. Dass die inhaltliche Stringenz der Referate damit nicht immer Schritt halten konnte, war da nicht weiter verwunderlich, umso erfreulicher, dass die oftmals kompetenteren Diskussionsbeiträge aus dem Publikum manche Schieflage wieder zurecht rückte.
In dem fast unüberschaubaren Programm erwiesen sich naturgemäß diejenigen Fragestellungen als besonders fruchtbar und anschaulich, die sich dem identitätsstiftenden Potenzial der Musik möglichst direkt und konkret näherten: die Fallstudie eines heranwachsenden Berliner Paares etwa, das sich ohne Instrumentalausbildung mit „Luftgitarre“ und „Bananenmikrofon“ musikalisch auszudrücken versteht (Sabine Vogt); die Untersuchungen zu Jugendszenen und ihren musikalischen Prägungen (Winfried Gebhardt aus soziologischer, Klaus-Ernst Behne aus sozialpsychologischer Sicht); oder der Tango argentino als Paradebeispiel einer Musik, die Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft eine gemeinsame Projektionsfläche bietet und die Fremdheit zum Kriterium einer Gruppenzugehörigkeit macht (Katja Grönke).
Erfreulich auch das Engagement für den wissenschaftlichen Nachwuchs, dem im Rahmen des „Jungen Forum“ eigene Programmschwerpunkte gewidmet waren, deren Ergebnisse sich in den kommenden Wochen zu einem Memorandum zu „Konsequenzen für die Jugendbildung“ verdichten sollen. Auch eine eigene Fachgruppe innerhalb der Gesellschaft für Musikforschung wird in diesem Zusammenhang eingerichtet.
Die Kooperation mit dem Weimarer Kunstfest „pèlerinages“ sorgte für ein hochkarätiges Begleitprogramm (darunter ein herrlicher Mozartabend mit András Schiff und seiner Capella Andrea Barca), das vonseiten des Kongresses mit Gesprächskonzerten und einem spektakulären Auftritt der Kunqu-Operntruppe aus China optimal auf das Kongressthema abgestimmt war. Es scheint sich etwas zu bewegen in der deutschen Musikwissenschaft.