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Uraufführung „Ein Mensch erkennt, dass er nie Mensch war“ von Eres Holz. Foto: Tomek Kujawinski

Uraufführung „Ein Mensch erkennt, dass er nie Mensch war“ von Eres Holz. Foto: Tomek Kujawinski

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„Auferstanden aus Ruinen“

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Nachkriegsmusik beim „Forum neuer Musik“ des Deutschlandfunk Köln
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Seit der Corona-Pandemie war das „Forum neuer Musik“ nur als „Radiofestival“ zu erleben, freilich ohne Festivalcharakter, da vorproduzierte Beiträge oder live übertragene Konzerte über mehrere Wochen auf unterschiedliche Sendeplätze verteilt wurden. Nach viereinhalb Jahren fand die Veranstaltung nun erstmals wieder live vor Publikum im Kammermusiksaal des Deutschlandfunk Köln statt. Frank Kämpfer setzte als künstlerischer Leiter erneut ein gesellschaftspolitisches Thema: „In der deutschen Nachkriegszeit“. Während früher vier bis sechs Konzerte sowie Vorträge und Podiumsgespräche live stattfanden, waren es diesmal nur zwei Konzerte, die während und nach der Nazi-Diktatur entstandene Musik und nur eine einzige Uraufführung präsentierten.

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Der Themenabend „Davon geht die Welt nicht unter“ widmete sich Propaganda- und Durchhalte-Schlagern von Friedrich Hollaender, Hans Baumann, Theo Mackeben und anderen in neuen Arrangements von Oliver Augst und Marcel Daemgen. Das Konzert „Auf der verzweifelten Suche nach Normalität“ präsentierte Werke von um 1900 geborenen Komponisten, die sich in Nazi-Deutschland arrangiert oder sogar vom Regime profitiert hatten. „Le violon de la mort“ (1947) von Grete von Zieritz beginnt als grotesker Walzer im 2/4-Takt, der sich langsam in den üblichen Dreier einschwingt und schließlich von scharfen Dissonanzen abgeschnitten wird. Boris Blachers „Zirkuspferdchen“ (1947) liebäugelt mit der leichten Spielmusik der 1920er-Jahre. Hermann Reutters neoklassizistische „Fünf antike Oden nach Gedichten von Sappho“ sehnen sich zurück ins verlorene Arkadien. Die von Dirigent und Komponist Christoph Maria Wagner für das E-MEX Ensemble instrumentierten Klavierlieder wurden von Mezzosopranistin Amira Elmadfa stimmschön, aber textunverständlich vorgetragen.

Ernst Hermann Meyer überlebte als Sohn jüdischer Eltern im Exil und vertrat später in der DDR als Mitglied des Zentralkomitees der SED restriktiv die Doktrin des Sozialistischen Realismus. Seine von Pianist Martin von der Heydt virtuos gespielte „Toccata appassionata“ von 1966 klingt wie ein Beispiel für den von Hans Magnus Enzensberger in „Drei Strategien der Normalität“ als regressives „Grundnahrungsmittel“ benannten Eskapismus. Statt der Zukunft zugewandt, geht es nostalgisch zurück zu motorischer Neusachlichkeit in Reger-Chromatik. Als einziger klarer Neuanfang herausstechend waren ausgewählte Sätze aus Bernd Alois Zimmermanns 1956 entstandenem Klavierzyklus „Konfigurationen“ in Wagners farbreicher Instrumentation.

Stärkeren Eindruck als alle epigonale Nachkriegsmusik machten die von Schauspieler Olaf Reitz vorgetragenen Texte. Die von Susanne Kerckhoff an einen fiktiven emigrierten jüdischen Jugendfreund gerichteten „Berliner Briefe“ (1948) beschreiben schonungslos die damals herrschende Schuld, Mitschuld, Verdrängung, Todesverlorenheit, Orientierungslosigkeit und verzweifelten Versuche der Deutschen, Täter- und Opferrolle umzukehren. Den anrückenden Geschützdonner der Alliierten erlebte die junge Sozialistin 1945 furchtlos als kommende Befreiung von der Nazi-Diktatur wie ein „Stahlgewitter von Menschenliebe“. Ebenso eindrücklich diagnostizierte Hannah Arendt beim „Besuch in Deutschland“ (1950) die Gefühllosigkeit der Menschen, die unbeteiligt durch Ruinen spazieren und sich Postkarten von Bauwerken schicken, die längst nicht mehr existieren.

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Als einzige Uraufführung erklang „Ein Mensch erkennt, dass er nie Mensch war“ von Eres Holz (siehe Text Seite 6). Das Ensemblestück basiert auf Gesprächsprotokollen deutscher Kriegsheimkehrer in psychiatrischen Anstalten aus Svenja Goltermanns Dokumentation „Die Gesellschaft der Überlebenden“ (2011). Der israelisch-deutsche Komponist stammt mütterlicherseits aus einer Familie polnischer Juden, von denen viele im Holocaust ermordet wurden. Zu der von schreienden Dissonanzen und Trommelschlägen manisch vorangepeitschten Musik zeigen Textprojektionen ehemalige Wehrmachts- und SS-Soldaten als hilfsbedürftige Menschen, die durch totalitäre Vereinnahmung, individuelle Täterschaft und erlittene Kriegserfahrungen hochgradig traumatisiert wurden. Holz verharmlost nicht die Verbrechen, sondern vermittelt eine zu allen Zeiten nötige humane Botschaft: Statt in starre Freund-Feind-Schemata zu verfallen, müssen wir zu verstehen versuchen, warum jemand anders ist, denkt und handelt. Denn das ist eine Voraussetzung für Demokratie, Freiheit und Frieden.

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