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Das Landesjugendorchester Hamburg mit seinem Dirigenten Johannes Witt und der Sängerin Ann-Beth Solvang. Foto: © Michael Haul

Das Landesjugendorchester Hamburg mit seinem Dirigenten Johannes Witt und der Sängerin Ann-Beth Solvang. Foto: © Michael Haul.

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Basisdemokratisch und persönlichkeitsbildend: 55 Jahre Landesjugendorchester Hamburg

Vorspann / Teaser

Landesjugendensembles unterschiedlichster Besetzungen sind Formationen, die auf hohem technischem und künstlerischem Niveau jungen Menschen den Einstieg in das gemeinsame Musizieren ermöglichen. Die Mitglieder sind zumeist zwischen 14 und 25 Jahren alt und decken die Breite von Instrumentalschülern bis hin zu angehenden Profimusikern ab. In Hamburg hat am vergangenen Wochenende das dortige Landesjugendorchester sein 55jähriges Bestehen mit einem ausverkauften Jubiläumskonzert in der Elbphilharmonie gefeiert. Schon in den Grußworten wurde schnell klar, dass es um weit mehr als gemeinsames Musizieren geht.

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„Wir sind Geschwister und wollen unserem Bruder zuhören, der Kontrabassist im Orchester ist“, erzählen zwei Jugendliche an der Garderobe der Elbphilharmonie. Nun ist es in Musikkreisen durchaus üblich, dass Musiker Oma, Tante und Schwiegermutter im Publikum sitzen haben. Wenn es sich dann noch um ein Laienensemble – etwa einen Kinder- oder Kirchenchor – handelt, dann trifft man gelegentlich auf eine Zuhörerschaft, die zu erheblichen Teilen aus Verwandten und Freunden besteht kann. So war auch das Jubiläumskonzert zum 55jährigen Bestehen des Landesjugendorchesters Hamburgs (LJO HH) im besten Sinne eine Art „Familienkonzert“.

Das LJO HH ist das älteste Jugendorchester der Hansestadt und im Laufe seines Bestehens seit 1968 sind mehrere tausend Jugendliche in diesem aktiv gewesen. Das hat viele lebenslang geprägt. So berichtet der weltweit gefragte Wagner-Tenor Klaus Florian Vogt über seine Zeit als Hornist im (damals noch) Hamburger Jugendorchester: „Ich bin unendlich dankbar für die Erfahrungen und immer noch währenden Freundschaften aus dieser tollen Zeit.“ Den Organisatoren des Konzertes war es gelungen, noch etwa 700 Ehemalige des LJO HH ausfindig und diese auf das Jubiläum aufmerksam zu machen. So haben neben einigen Gründungsmitgliedern der ersten Stunde auch zahlreiche ehemalige Orchestermitglieder im Publikum gesessen. Ein Familienkonzert!

Zwei Gründungsmitglieder, Herbert Bruhn (HB, ehem. Professor für Musikpädagogik und heute Inhaber des Konzertraums Weinklang in Altona) und Matthias Rieger (MR, Vizepräsident des Landesmusikrates Hamburg) erinnern sich an die erste Zeit. HB: „MR und ich haben uns damals in der 7. Klasse schnell zum Musizieren zusammengefunden. Er war der perfekte Duo-Partner und stellte hohe Ansprüche an mich.“ MR: „Irgendwann wurde es uns zu langweilig, nur immer zu zweit zu spielen. Wir hatten eine Idee: wir gründen unser eigenes Orchester.“ HB: „Zu Beginn hatten wir 14 Mitglieder; ich war unser Dirigent.“ MR: „Zu dieser Zeit versuchten die Behörden von Hamburg zum wiederholten Mal, ein Landesjugendorchester zu gründen. Leider scheiterte der Versuch nach circa 2-3 Proben, da die Jugendlichen die ausgewählten Stücke nicht interessant genug und teilweise zu schwer fanden. Der Dirigent hatte leider keine pädagogischen Fähigkeiten und vergaß in seiner Detailverliebtheit, die Mitspieler*innen mitzunehmen und zu motivieren.“

HB: „MR und ich fanden, dass wir es besser machen könnten und rückten mit unserer Idee, wie man ein Landesjugendorchester etablieren könnte, der zuständigen Jugendbehörde auf den Pelz. Nach unzähligen Verhandlungen war die Behörde überzeugt und stellte finanzielle Mittel zur Verfügung. Ich konnte Professor Brückner-Rüggeberg als Mentor für das Orchester gewinnen. So wurde das Hamburger Jugendorchester 1968 gegründet.“ MR: „Das Orchester zog wenig später in den Saal im ‚Haus am Stintfang‘. Hier probt es bis heute. Ich übernahm die Verwaltung des Orchesters. Es war uns von Anfang an wichtig, nicht nur zu musizieren, sondern unsere Arbeit selbstbestimmt umzusetzen zu können. Hierzu gründeten wir einen Vorstand, der wesentliche Entscheidungen traf und Verwaltungsarbeit erledigte; zu Beginn unter besonders kritischer Beobachtung des damaligen Trägers, der Jugendbehörde, für die dieses Konzept ziemlich neu war.“

Eine interessante Beobachtung am Rande des Jubiläumskonzertes ist, dass wenig über Musik gesprochen wird. Es wird Musik gemacht, im Konzertsaal – wunderbar anzuhören und auf allerhöchstem Niveau. Zum Jubiläum gab es ein auf Hamburg bezogenes Programm. Als Einleitung erklang Leonard Bernsteins „Candide“-Ouvertüre – Bild für die weltoffene Hafenstadt Hamburg, in der der durch die Welt irrende Titelheld Candide sicher auch kurz Rast gemacht hat. Der Bezug zur See, zum Hamburg prägenden Wasser, wurde durch Edward Elgars „Sea Pictures“ op. 37 für Sologesang und Orchester manifestiert. Als Interpretin für diese fünf romantischen Miniaturen konnte die stimmlich hoch nuancierte norwegische Mezzosopranistin Ann-Beth Solvang, ehemaliges Ensemblemitglied der Staatsoper Hamburg, gewonnen werden. Nach der Pause erklang die Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 73 von Johannes Brahms, einem der wohl wichtigsten musikalischen Kinder der Hansestadt. Die musikalische Leitung oblag dem Johannes Witt.

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Ein Teil der Selbstverwaltung des Landesjugendorchesters Hamburg (v. li.): Jonas Goumairi, Violine & Notenwart, Thorben Buschke, Bassposaune & Werbung/Anzeigenakquise, Emma Napret, Fagott & Programmheftredakteurin, Fine Lamp, Violine & Personalwartin, Louise Witzel, Violine & Konzertmeisterin und Teil des Orchestervorstandes, Fabienne Kroß, Tuba & Personalwartin und Jakob Bode, Posaune & 1. Vorsitzender. Foto:  © Michael Haul

Ein Teil der Selbstverwaltung des Landesjugendorchesters Hamburg (v. li.): Jonas Goumairi, Violine & Notenwart, Thorben Buschke, Bassposaune & Werbung/Anzeigenakquise, Emma Napret, Fagott & Programmheftredakteurin, Fine Lamp, Violine & Personalwartin, Louise Witzel, Violine & Konzertmeisterin und Teil des Orchestervorstandes, Fabienne Kroß, Tuba & Personalwartin und Jakob Bode, Posaune & 1. Vorsitzender. Foto:  © Michael Haul

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Aber die Musik ist für das LJO HH nur ein Vehikel (der edelste Rolls-Royce – keine Frage!). Das gemeinsame Musizieren nimmt die meiste Zeit in ihrem Zusammensein ein und sie macht den Jugendlichen unbändigen Spaß – das konnte man in diesem ersten Konzert des Orchesters in der Elbphilharmonie hören, spüren und sehen. Aber da ist noch mehr. Klaus Florian Vogt sagt: An den Erlebnissen und Aufgaben neben den künstlerischen Erfahrungen im LJO HH kann „man die enorme Bedeutung für junge Menschen einer solchen Institution über die Musik hinaus erkennen“.

Selbstverwaltung elementar

Es ist weit mehr als ein Topos, den es in diesen Tagen an jeder Ecke zu beschwören gilt, wenn des Präsident des Landesmusikrates Hamburg, Ludger Vollmer, in seinem Grußwort über kulturelle Jugendbildung und musikalische Nachwuchsförderung – die wohl wichtigsten Standbeine des LJO HH – sagt: „Wie dringend notwendig diese beiden Dinge gerade in unserer von Fake News, Haß, Verschwörungstheorie, Antisemitismus und religiösem Fanatismus geprägten Zeit ist, soll die – leicht gekürzte Antwort des Immanuel Kant auf die Frage „Was ist Aufklärung“ verdeutlichen: ‚Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen (Hervorhebung Vollmer) zu bedienen. Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.‘“

Vollmer fährt fort: Das LJO HH „spielt seit 55 Jahren nicht allein die Melodien der Schönheit und des Genusses und singt die Lieder der Freiheit und der Menschlichkeit. Sondern es sucht in einer Zeit des Niederbrüllens, der Rechthaberei und der lauthals vorgetragenen Lügen unbeirrt nach Wahrheit, indem es das sensible Hinhören und die respektvoll gemeinsame Analyse von Kompositionen trainiert mit dem Ziel, Schönheit und Leidenschaft zu erschaffen. Hier gilt nicht das Recht des Stärkeren, sondern die künstlerische Aussage jedes einzelnen Mitgliedes einer Gemeinschaft auf Augenhöhe. Die Älteren helfen den Jüngeren, die Stärkeren den Schwächeren.

Das LJO HH ist zudem von Anfang an mit einer Selbstverwaltung der Mitspielenden bei allen inhaltlichen Planungen, bei der Organisation und dem Management konzipiert. So erzielt es exakt im Sinne Kants, also ohne fremde Führung, seine innovative und kreative Programmgestaltung und seine hohe künstlerische Qualität. Die vielen internationalen Konzertreisen der jungen Musiker:innen weiten ihren Erfahrungshorizont zur Toleranz und lassen sie mit Menschen aus anderen Kulturen in Kontakt, Freundschaft und künstlerischen Austausch treten. So erlernen sie nebenher basisdemokratische und persönlichkeitsbildende Erfahrungen, die sie in ihr Leben und in die Gesellschaft Hamburgs nehmen. Die Erziehung zum selbstständigen Denken und Fühlen im Sinne Kants ist nach meiner Überzeugung DAS Mittel gegen Haß, Lüge, Verblendung, und letztlich Antwort auf die existenziellen Krisen unserer Zeit. Deshalb ist die Arbeit des Landesjugendorchesters gerade heute so wichtig.“

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