Während die Uraufführung „Edward II.“ gerade seitens schwuler Rezensenten und Besucher als ein fragwürdig anachronistisches Einrennen offener Türen rezipiert wurde, kann man diesen Vorwurf der jüngsten homophilen Produktion der Deutschen Oper Berlin nicht machen: denn während der Paragraph 175 aufgehoben wurde, ist Päderastie weiterhin ein internationales Strafdelikt. Die in mehreren Bühnenwerken Benjamin Brittens thematisierte Knabenliebe geht einher mit dem in Großbritanniens Künstlerkreisen offenen Geheimnis, dass Benjamin Britten und Peter Pears sich auf ihren Konzert-Tourneen häufig Knaben mit in ihr gemeinsames Hotelzimmer nahmen.
Die Knabenliebe ist auch Thema von Benjamin Brittens letzter Oper „Death in Venice“. Deren Uraufführung, mit dem Lebengefährten des Komponisten in der Hauptrolle, in Snape bei Aldeburgh, konnte der schwerkranke Komponist nicht mehr beiwohnen. Dieser später an Covent Garden und an die MET übernommenen Uraufführungsproduktion des Aldeburgh Festivals folgte im September 1974 die deutsche Erstaufführung an der Deutschen Oper Berlin. Eine Neuinszenierung dieser selten zu erlebenden, für kleinere Theater konzipierten Oper bildet nun an Berlins größtem Opernhaus den vorläufigen Abschluss des Britten-Zyklus.
Luigi Viscontis gelang mit „Morte a Venzia“, der Verfilmung von Thomas Manns Erzählung „Der Tod in Venedig“, ein Assoziationssprung, indem er den fiktiven Dichter Gustav von Aschenbach in Maske und Musik zum Komponisten Gustav Mahler transformierte. Dieser Film war auch der Impuls für Britten, gemeinsam mit seiner Librettistin Myfanwy Piper, Thomas Manns Novelle für die Opernbühne zu dramatisieren und dabei die Hauptfigur wieder zum Dichter zu machen. [Britten selbst hat gesagt, er habe den Film zuvor jedoch nicht gesehen; oder siehe Spiegel 1974; Anm. MH].
Dass sich die dramaturgische Fragestellung nach schwindender Inspiration und fragwürdigen Mitteln, diese zu überwinden, auch auf den Komponisten selbst bezog, macht der Blick in die Struktur der Partitur deutlich. Inspiration durch die Begegnung mit dem polnischen Knaben Tadzio erfolgt nicht etwa durch polnische Musik, sondern durch eine gamelanartige, schlagwerkintensive, Britten vordem fremde Musik, während die Reflexionen das alternden Künstlers zumeist von einem Klavier solistisch begleitet werden – so als handelte es sich um einen der Liederabende des Tenors Peter Pears, die Britten zumeist selbst begleitet hat.
Graham Vicks Inszenierung verzichtet auf jegliche München- und Venedig-Attribute und spielt die 19 Szenen mit ihren wechselnden Dekors – und bisweilen auch, wie in der zweiten Szene des zweiten Aktes, an häufig wechselnden venezianischen Schauplätzen innerhalb einer Szene – im gelben Einheitsbühnenbild von Stuart Nunn. Unter einem übergroßen Jugendbild des Dichters, allerdings mit deutlichem Wasserschaden, wohnt der Dichter seiner eigenen Trauerfeier bei – mit einem schwarzen Konzertflügel anstelle eines Sargs. Die Trauergesellschaft nimmt keine Notiz vom anwesenden Objekt ihrer Trauer, wandelt sich in den Augen des Dichters mal zu einer sich nur befummelnden, dann zu einer überaus lächerlichen Gesellschaft, die unter ihren schwarzen Trauergewändern die Touristenkleidung für die Überfahrt auf die Lagune trägt.
Der grüne Einheitsbühnenkasten, im zweiten Teil mit dem Wort „Achtung“ übersprüht, verfügt links und rechts je über sieben Türen, die häufig wind-wellenartig bewegt werden. Ansonsten bleibt es bei den Requisiten der Trauerfeier, schwarzen Stühlen, die auch als Reisegepäck bespielt werden und nun die Bestuhlungen für fragwürdiges Entertainment bieten, sowie einem Trauerkranz, der mal zur Menütafel eines Restaurants, mal zum Spiegel des Friseurs umgedeutet wird.
Ein überdimensionierter Blumenstrauß lilafarbiger Tulpen im rechten Bühnehintergrund wird auch als Düne bespielt. Zwischen grüner und gelber Grundbeleuchtung fährt Aschenbach selbst einen Spot auf Rollen, – wie schon der männliche Hauptdarsteller in Neuenfels’ Inszenierung der „Gezeichneten“ in Frankfurt. Charaktertenor Paul Nilon gelingt es mit der langen und anstrengenden Partie des Aschenbach nicht, zu einer Identifikationsfigur zu werden, so wenig wie der Tänzer Rauand Taleb als Tadzio zum nachvollziehbaren Objekt der Begierde inmitten der von Ron Howell choreographierten auch schon mal Gondeln darstellenden Tanzgruppe.
Bariton Seth Carico macht den Todesboten in seinen diversen Erscheinungsformen, zwischen Gondoliere, Hotel-Manager, Coiffeur und Anführers der Straßensänger – abgesehen vom Nachtclub-Transvestiten auf silbern hochhackigen Stöckelschuhen – mit nur geringfügigen Veränderungen seines Outfits, zu einem immer wieder mit kleinen Überraschungen aufwartenden, genussreichen Erlebnis.
Zahlreiche Klein- und Kleinstrollen eines von Ido Arad und Christopher White einstudierten Chors von Solisten in verschiedensten Rollen auf polyglotter Sprachebene – zwischen Deutsch, Italienisch, Dänisch und Russisch der in Originalsprache erklingenden Partitur – mischen sich klanglich trefflich mit dem von Raymond Hughes backstage geleiteten Chor der Deutschen Oper Berlin.
Deren Orchester bringt unter der Leitung des erklärten Britten-Fans Donald Runnicles trotz Brittens atonaler Ausrichtung wohltönende Melodien zur Wirkung. Diese steigerte sich am Premierenabend mit dem nicht bebilderten Vorspiel zum zweiten Akt, während die bei Britten stets sinnträchtigen Zwischenspiele im hier nahtlosen Szenenfluss häufig beiläufig erschienen.
Die Nähe von Brittens letzter Opernpartitur zu Wagner, mit ihren sinnträchtigen Motivverbindungen des musikalisch gleichen Materials für Dionysos und die sechs Erscheinungsformen des Todesboten, wird in Runnicles’ Interpretation deutlich, insbesondere im tonal ambivalenten Gefüge des im zweiten Akt vorherrschenden E-Dur.
Am Ende des im ersten Akt häufig redundanten Premierenabends gab es viel Jubel für die musikalische Ausführung, gemischt mit Buhrufen für das Regieteam.
- Weitere Aufführungen: 19., 22., 25. März; 23., 28. April 2017