Eine breitere Synthese von Historienspiel, Kammeroper und Massenspektakel ist schwer denkbar: 2009 erhielt der belgische Komponist Bert Appermont (geb. 1973) als Student des damaligen Chefdirigenten Jan Cober den Kompositionsauftrag zum sechzigjährigen Jubiläum der Sächsischen Bläserphilharmonie. Bereits zur Uraufführung am 17. Oktober 2010 im Leipziger Gewandhaus dachte man an das für Mitteldeutschland so wichtige Jubiläum „Luther 2017“.
So hat die Sächsische Bläserphilharmonie mit „Katharina von Bora“ ein bestens funktionierendes Repertoireglanzstück im beachtlich mobilen Auftrittskalender. Auf eine Vorstellung am Originalschauplatz vor der Klosterruine Nimbschen folgt zum „Kirchentag auf dem Weg“ am 26. Mai ein Open-Air-Gastspiel auf dem Leipziger Augustusplatz.
Es ist ein evangelisches Heiligenspiel über die auf Gut Lippendorf südlich von Leipzig geborene und in Torgau gestorbene Ehefrau Martin Luthers, was man da vor der riesigen, dachlosen Ruine des früheren Zisterzienserinnenklosters Marienthron aufführt. Aus dem Kloster entfloh die Nonne 1523 nach der Lektüre der Reformationsschriften Luthers. Fast in der Mitte zwischen den Schauplätzen dieses alle Konventionen sprengenden Frauenlebens, in Bad Lausick, hat die Sächsische Bläserphilharmonie ihren Standort und als Deutsche Bläserakademie ihre Seminarräume. Konzept und Realisierung sind also naheliegend.
Gänzlich in die Irre führt allerdings der Untertitel „Kammeroper“ für das von der Stadt Grimma ermöglichte Event am 20. Mai. Neben den von Christiane Büttig befeuerten 120 Sängern des Universitätschors Dresden treibt die künstlerische Lichtinstallation von Gunther Ries die Frühlingsnacht zur Gänze in die Monumentalität. Mit magischem Blau aus den Fenstern der Ruine und rotem Feuerwerk als Finale. Musiker und Solisten zeigen Spielfreude und Sangeslust wie zur Kirchweih und fast könnte man denken, die protestantische bzw. religionsfreie Region suche die triumphale Überzeugungsgewalt katholischer Sakral- und Volksspiele. „Katharina von Bora“ hat für das Muldental und ganz Mitteldeutschland starkes Identifikationsappeal wie Agnes Bernauer für Altbayern zwischen Augsburg und Vohburg. Der Gedanke ist verwegen, aber realistisch: Das zeigt die Begeisterung der 900 Zuschauer.
Ähnlich denkt sicher auch der aus der Religionsfrieden-Region Westfalen stammende Thomas Clamor seit der von ihm dirigierten Uraufführung. In diesem historischen Ambiente lässt er die Stimmen nicht wegen der Orchesterbesetzung verstärken, sondern wegen der räumlichen Dimensionen. Denn die Sächsische Bläserphilharmonie, inklusive Schlagwerk und Harfe, ist stark im schmetternden Forte und kann dann jederzeit zurück in ein geschmeidig-seidiges Piano – selbst dann, wenn das Zischen von Pyro-Effekten und Funkenregen sie zu übertönen droht.
Wie eine Besessene jagt Barbara Sauter als Katharina über den feuchten Rasen, Frau auf der Flucht! Die historische Katharina von Bora bricht sich bei einem Unfall mit der Kutsche einen Beckenknochen und stirbt wenige Wochen später. Daraus gewinnt der Textdichter Jef Mellemans sein dramatisches Konstrukt: Erinnerungen der halb wahnsinnigen Katharina sind Anlässe zu umfangreichen Musiknummern in sieben Bildern. Die Solisten agieren konzertant.
Bert Appermonts Musik durchstreift archaisierende Assoziationen und Gefühle. Die vorausgestellte Intrada von Ray Farr nach dem Lutherchoral „Ein Feste Burg“ weist auf das folgende Bewährungsdrama, das mit cremigem Sound und einem überschäumenden Melodien-Reservoir voranschreitet. Gestenreich wie Bach, farbenreich wie Webber und die Deklamation beschwingt wie Weill. Die dieses Jahr erneuerte Besetzung weiß damit umzugehen: Kathrin Göring, als singende Katharina von Bora, hat „Evita“-Power in den verhaltenen Momenten und für die vielen Forte-Bögen alle Höhenreserven einer echten Wagner-Heroine. Sie mit Radoslaw Rydlewski, dem Luxus-„Zarewitsch“ der Musikalischen Komödie Leipzig, und Diana Tomsche, sie ist Luthers erste Wunschfrau Ave von Schönfeld, schlagen intelligentes Kapital aus Appermonts Phrasen. Bis zum gloriosen Schluss, wenn Katharina umwölkt von reinen Dur-Akkorden aus dem irdischen Jammertal in die ewige Seligkeit eingeht.
Appermonts „Katharina von Bora“ schlägt sich mit Selbstbestimmung und Liebesfähigkeit gegen Tod und Teufel. Deshalb darf Luther (Johannes G. Schmidt) neben dieser starken Frau nur ein knabenhafter Novizen-Bariton sein, er zieht Katharina schon zu Beginn als Stimme Gottes in ein berückendes Duett. Deshalb muss der echte Knabensopran (Alfred Trobisch) mehr herb als seraphisch klingen.
Die Partitur enthält eine breite ariose Farbskala zur Charakterisierung der Figuren. Davon hörte man beim Kloster Nimbschen leider nur wenig: An der musikalischen Ausführung lag es sicher nicht und auch nicht am Ambiente, denn das Muldental gehört zu den Geheimtipps unter den deutschen Natur- und Kulturräumen. Aber eine derart plärrende Tontechnik wird weder der Partitur noch dem Ort gerecht. Hier könnte man einiges von der katholischen Raffinesse für vergleichbare Großereignisse übernehmen. Denn was Katharina von Bora zu sagen hat, sollte erst recht zum „Kirchentag auf dem Weg“ verstanden werden.
- Besucht: 20. Mai 2017 – 21:00, Kloster Nimbschen bei Grimma
- Weitere Vorstellung: 26. Mai 2017 – 20:00, Leipzig, Augustusplatz