Vom Stiftersaal des Wallraf-Richartz-Museums in Köln sieht man in die benachbarte Trümmerkirche St. Alban. Zu diesem Anblick hört man zarte Liegetöne und Instrumentalmixturen, die sich in Naomi Pinnocks „(were the ruins still there)“ zu leisen Schemen wie zu brüchigen Hinterlassenschaften einstiger Klangmonumente überlagern. Die Musik der 1979 geborenen britischen Komponistin erinnert an Werke von Morton Feldman, die wiederum der Farbfeldmalerei des abstrakten Expressionismus gleichen.
Am Schluss werden die spinnweb-feinen Pastellklänge mit geräuschvollem Wischen über die Große Trommel gleichsam vom Winde verweht. Die Uraufführung im Konzert des European Workshop for Contemporary Music (EWCM) passte zum diesjährigen Motto „Musik oder Nichts“ des Festivals ACHT BRÜCKEN | Musik für Köln, das einen Fokus auf Kompositionen an der Schwelle zu Stille und Verstummen legte.
Podium der Gegenwart
Der EWCM ist eine Kooperation von „Podium Gegenwart“ des Deutschen Musikrats mit dem Festival Warschauer Herbst. Ins Leben gerufen wurde die Initiative 2003, als die EU mit Polen den Vertrag über den Beitritt des Landes in die Staatengemeinschaft verhandelte. Maßgeblich vorangetrieben wurde das Projekt vom damaligen musikalischen Leiter der Zeitgenössischen Oper Berlin Rüdiger Bohn, der dann Dirigent des EWCM wurde und seit 2005 als Professor für Dirigieren an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf unterrichtet. Unter seiner Leitung kommen seit nunmehr zwanzig Jahren rund 25 junge Musikstudierende aus Polen, Deutschland und anderen EU-Ländern für einwöchige Probenphasen zusammen, um anspruchsvolle neue Musik zu erarbeiten und bei Konzerten in Deutschland und Warschau aufzuführen. Längst hat diese Arbeit nachhaltige Spuren bei der Professionalisierung junger Formationen hinterlassen, etwa bei Ensemble Garage, Trio Catch, electronic ID und beim 2014 gegründeten Spółdzielnia Muzyczna, das 2021 die Ensembleförderung der Ernst von Siemens Musikstiftung erhielt.
Intensiv studiert werden sowohl zentrale Werke des zeitgenössischen Repertoires als auch eigens in Auftrag gegebene Stücke des jungen europäischen Komponistennachwuchses. So möchte man den interkulturellen Austausch pflegen und einen Beitrag zur Erweiterung und Vertiefung künstlerischer Partnerschaften zwischen Ost und West sowie auf gesamteuropäischer Ebene leisten. Als Referenzstück stand diesmal Helmut Lachenmanns „Mouvement (– vor der Erstarrung)“ von 1983/84 auf dem Programm. Die schnell wechselnden Spieltechniken, erweiterten Klangmöglichkeiten sowie zersplitterten und im nächsten Moment exakt synchronisierten Aktionen stellten die jungen Musikerinnen und Musiker vor große Herausforderungen. Für einige bedeutete dies der Erstkontakt mit erweiterten Spieltechniken. Und zur Lehre gehörte auch die Erfahrung, dass es bis zur zweiten Aufführung beim Warschauer Herbst im September noch viel zu üben und proben gibt, um die Luzidität und Bissigkeit des Stücks prägnanter herauszuarbeiten.
Polnische Träumerei
Während bei Lachenmann der Klang bei schnellen Repetitionen wie entfesselt erscheint, obwohl gerade diese rhythmisch-metrisch strickt gebunden sind, zeigte Paweł Malinowskis uraufgeführtes „in dreams begin melodies“ eine ähnliche Dialektik von Materialität und Gestalthaftigkeit. Der 1994 geborene polnische Komponist ließ in irisierenden Klangfäden und filigranen Flächen per diskreter Zuspielung plötzlich tröpfelnde Melodien von schmelzendem Eis anklingen. Manche lachenmannesk hauchigen Schattierungen wurden leider von der lauten Saallüftung weggesaugt.