Die Kernthemen der italienischen Regisseurin Ilaria Lanzino an der Oper Nürnberg waren bisher Liebe und Flirt mit Social Media in „Der Liebestrank“, in „Talestri“ ein durchaus anfechtbarer Frauenstaat und dann in „Lucia di Lammermoor“ eine schwule Tragödie in einem toxischen Umfeld. Jetzt, in „La traviata“, tritt an die Stelle von Alexandre Dumas Fils’ „Kameliendame“ und Giuseppe Verdis Adaption zur Geschichte einer „Gestrauchelten“ das Schicksal eines Opfers von Social Media und der anonymen Gewalt von Shitstorms. Packendes Theater trifft auf eine genaue wie bezwingende Musikleistung. Ideale Besetzung mit Andromahi Raptis, Sergei Nikolaev und Sangmin Lee.

Staatstheater Nürnberg Oper „La Traviata“. Im Bild (v.l.n.r.): Andromahi Raptis, Sergei Nikolaev. Foto: Pedro Malinowksi
Bulls, Bunnies, Shitstorms: Die neue Nürnberger „La Traviata“ aktualisiert bitter und sensibel
Der riesige Schlussapplaus signalisiert trotz eines hartnäckigen Buhers: Andromahi Raptis, Sergei Nikolaev und Ilaria Lanzino sind das Dream-Team der Oper Nürnberg – zusammengeschweißt bereits in ihrer dritten gemeinsamen Produktion. In „La traviata“, die bei der Uraufführung 1853 in Venedig aus verschiedenen Gründen einen Eklat auslöste, gerät das Gesellschaftspanorama des seither äußerst beliebten und deshalb leicht gefährlichen Repertoirefavoriten zu einer höchst aktuellen Sittenstudie.
Bei Lanzino wird Violetta, die in einem Club zu viel getrunken hat, während des Vorspiels zum Opfer eines Missbrauchs durch fünf Männer mit Stiermasken. Einer filmt, das Video geht viral, die Comments explodieren vor Häme und Violetta traut sich erst nach geraumer Zeit vermummt wieder in den Club. Jetzt ist sie wie die Halbwelt-Kurtisane des Originals auf immer stigmatisiert – außer bei ihren Freunden. Alfredo lernt sie lieben und stellt sie seiner großbürgerlichen Familie vor, während Violetta vorerst von Trauma und beschmutztem Selbstwertgefühl loskommt. Doch der Bräutigam von Alfredos Schwester erkennt in der Freundin seines zukünftigen Schwagers die „Bitch“ aus dem Video. Die Familie fragt nicht, woher er das kennt.
Aber Lanzinos Hauptthema ist nicht die Doppelmoral der Bourgeoisie, sondern die Exkommunikation von Opfern digitaler Häme. Jetzt kommt die Entsagungsforderung in Bewegung. Violetta verzichtet auf Alfredo, wird als durch Trauma und Exzesse ruiniertes Opfer bei einer schockierenden Begegnung vollends zum Wrack und stirbt. Was in dieser Kurzfassung wie eine kalkuliert sensationslüsterne Vergegenwärtigung wirkt, erweist sich im Nürnberger Opernhaus als faszinierender wie niederschmetternder Niedergang ohne Aussicht auf Rettung. Die Spirale der Ausgrenzung spitzt sich zu: Alfredos Familie, welche zum großen Duett Violettas mit Vater Germont stets dabei ist, versucht sie mit wertschätzendem Druck abzufinden, was die Erniedrigung natürlich nicht harmloser macht.

Staatstheater Nürnberg Oper: „La Traviata“. Im Bild: Andromahi Raptis, Damen des Chores, Statisterie. Foto: Pedro Malinowksi
Carola Volles macht mit realistisch differenzierten Kostümen Violettas kleine Clique kenntlich als Freunde durch dick und dünn. Trotz des kaltweißen Klinikbettes und des seinen Dienst wacker nachgehenden Doktor Grenvil (Nicolai Karnolsky) stirbt Violetta nicht ganz so traurig wie sonst. Der Hergang ihres Leidens und Todes nimmt mehr gefangen als dieses selbst. Lanzino setzt nicht auf Apotheose, sondern pralles Leben mit kindlichem Schluchzen und offenen Armen: Die der Freundin Flora, um die Violetta viele beneiden müssten (ideal: Sara Šetar), eines Paradiesvogels Gaston (sympathisch: Kellan Dunlap) und Kumpels Obigny (nett: Wonyong Kang). Dazu kommt die aufgrund der zum Konzeptverständnis notwendigen Striche erst spät auftretende Annina (zwangsläufig unauffällig: Laura Hilden).
Auf der stufenförmigen Bühne Martin Hickmanns drücken sich das nüchtern weiße Interieur der Familie Germonts und Violettas Krankenbett mit Sauerstoffmaske in den schwarzen Club. Demian Matushevskyi als Vergewaltiger und Baron Douphol ist ein ziemlich schmales Hemd. Den Männer-Bullen mit silbernen Hörnern fehlt es an drastischer Haltung. Die Frauen wirken dafür ziemlich selbstbewusst und wehrhaft. Die Massenszenen mit unter Tarmo Vaasks Einstudierung brillant durchgezogenen Chören entwickeln einen mehr kräftigen als gefährlich lasziven Drive. Das liegt auch an der musikalischen Leitung durch Björn Huestege. Am Premierenabend wird der besondere Stellenwert von „La traviata“ in Verdis Oeuvre durch die Staatsphilharmonie Nürnberg exemplarisch hörbar: Melos steigert sich zu sinnfälliger, hochspannender Konversation. Auch die mittleren Partien sind hervorragend besetzt.
Die drei Hauptfiguren geraten auf individuelle und dabei stilistisch profunde Weise glänzend. Über Sangmin Lee ist alles gesagt, wenn man erwähnt, dass er die beiden Arien von Vater Germont durchweg im Piano singt und den Verhinderer von Violettas und Alfredos Liebe so zur Sympathiefigur macht. Lanzino nimmt die schroffen Akzente des Charakters weitgehend weg. Andromahi Raptis beginnt – trotz bereits zu Anfang mit enormer szenischer Präsenz – stimmlich etwas neutral und setzt gegen Ende immer mehr elegische bis abgründig melancholische Farben. Das Tolle an dem Abend. Weder bei ihr noch bei Sergei Nikolaev kommt es zum Forcieren, sondern zu einem im Rahmen des möglichen Volumens immer reicheren Farb- und Emotionenspektrum. Der lyrische Tenor zeigt einen jungen Mann, bei dem Violetta wirklich glücklich werden könnte. Die neue Nürnberger „Traviata“ sollte man hören und sehen. Die Oper hatte bereits 1853 nicht allen gefallen – ein Funke Polarisierung wie der einsame Buhrufer gehört also dazu, wenn deren Aufführung wirklich gut sein soll. Laute Ovationen.
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