Zwischen den Gattungen Operette und Musical scheint ein tiefer Graben zu liegen – auch wenn das amerikanische Musical Wurzeln in der europäischen Operette hat und umgekehrt amerikanische Elemente die europäische Operetten-Bühne bereicherten. Dass nicht erst in den 1920er Jahren, sondern schon 1911, also noch im Deutschen Kaiserreich, ein Broadway-Komponist für Berlin schrieb, daran erinnert das Stadtheater Gießen mit einer Ausgrabung: Gustav Kerkers Operette „Die oberen Zehntausend“.
Gustav Adolph Kerker, 1857 im westfälischen Herford geboren, kam im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie in die USA und entwickelt sich zu einem erfolgreichen Broadway-Komponisten. Von 1879 bis 1921 standen seine Stücke dort auf dem Spielplan. „The Belle of New York“ (1897) war das erfolgreichste. Kerkers Ruf verbreitete sich zurück nach Europa; etliche Stücke wurden auch in London gespielt, und 1911 gab sogar das Berliner Metropol-Theater bei ihm eine Operette in Auftrag. Das Buch zu „Die oberen Zehntausend“ schrieb der erfahrene Librettist Julius Freund nach einer Komödie des französischen Bühnenautors Victorien Sardou. Eine derart frühe transatlantische Zusammenarbeit macht natürlich neugierig.
Musikalisch stehen „Die oberen Zehntausend“ stark in der europäischen Tradition von Jacques Offenbach, Johann Strauss und Arthur Sullivan, deren Werke Kerker in New York für den Broadway bearbeitete. Im Vergleich ist der Marsch-Typus bei den musikalischen Nummern häufiger vertreten, aber es fällt schwer zu beurteilen, ob er eher amerikanischer Provenienz ist oder in die Berliner Operettentradition gehört. Einzig eine Autofahrt mit Autohupen im Orchester lässt wirklich als ungewöhnlich aufhorchen. Die abwechslungsreiche Instrumentierung verrät den geschickten Arrangeur. Was sich in Gießen nicht wirklich beurteilen lässt, ist der musikalische Witz, der aus der Verbindung von Text und Musik entsteht. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – das Philharmonische Orchester Gießen unter seinem 1. Kapellmeister Florian Ziemen engagiert aufspielt, sind die Gesangstexte kaum zu verstehen. Selbst die gesprochenen Dialoge gehen teilweise unter, sei es durch schlechte Artikulation, sei es durch unangebrachte Nebengeräusche.
Wie viel Amerika in dem französischen Szenario steckt, dass Kerker und Freund für das Berliner Publikum entwickelten, bleibt ohnehin unklar. Auch die Handlung an sich erscheint dünn: Wie viel Witz und Situationskomik in dem Szenario zwischen zwei ältere Millionären mit Kindern im heiratsfähigen Alter (darunter ein schon gewiefter Börsenspekulant), einem solide werdenden Lebemann, einem verliebten Chauffeur und einer pseudoorientalischen Pseudo-Prinzessin möglich wäre, lässt sich kaum sagen. Denn Regisseur Roman Hovenbitzer hat laut Ankündigung „mit viel Humor und Ironie eigens für Gießen eine Spielfassung erstellt. die die Handlung des Stücks augenzwinkernd ins Heute transportiert.“
Dass das Publikum verhalten reagiert, müsste der Regie zu denken geben. Jeder durchschnittliche Provinz-Karnevalist würde unter diesen Umständen seinen Vortrag überarbeiten .Die Darsteller auf der Gießener Bühne aber sind zum Spielen verurteilt. Und so wird dann schrill, hysterisch und teils unverständlich herumgealbert - nach Art der Leute, die über ihre eigenen Witze am meisten lachen. Meist sitzen die Pointen nicht, und wenn sie einmal sitzen, fehlt es am Gespür für Spannungsbögen und Timing. Dass einer der auf die falsche Prinzessin scharfen älteren Herrn sich „Kahn-Stross“ nennen darf, mag halbwegs passen, aber schon „Gaston de Mont-Guttenberg“ hat mit dem gefallenen Polit-Star der CSU eigentlich nichts gemeinsam. Barack Obamas optimistisches „Yes we can“ von 2008 ist inzwischen fast genau so in die Jahre gekommen wie Fotos von Angela Merkel und Maggie Thatcher aus den 90er Jahren. Gutwillig blättert in der Pause ein ratloses Publikum im Programmheft nach Zusammenhängen. Dass Ausstatter Hank Irwin Kittel als optischen und inhaltlichen Rahmen der Handlung die Frankfurter Euro-Skulptur von Ottmar Hörl wählt, hilft nicht viel weiter. Deutlich wird immerhin, dass am Ende an der Börse eine Spekulationsblase platzt. Aber der satirische Stachel der als Heuschrecken kostümierten Tänzer erschöpft sich darin, das Operettenpersonal zu erschrecken und die Bühne zu demolieren.
Wer wollte, konnte gewarnt sein. In einem einigermaßen witzigen Vorspiel tritt die Schauspielerin Marie-Louise Gutteck als Heuschrecke Madame Criquet auf. Sie zitiert alte Operetten-Klischees („Hauptsache schön und bunt und lustig!“) und warnt vor Beginn der Handlung: „Operette sich wer kann.“ Man könnte das für gattungstypische Ironie halten. Aber Hovenbitzer macht Ernst – und bleibt damit deutlich unter dem üblichen Gießener Niveau. Vermutlich wollte er anknüpfen an die viel gelobte Gießener Vorjahresproduktion von Paul Abrahams Operette „Viktoria und ihr Husar“, deren Inszenierung sehr ironisch und gegenwartsnah an die Vorlage heranging. Nur haben damals die beiden ungarischen Regisseurinnen Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka das Stück ernst genommen, das Klischee raffiniert von innen her aufgesprengt und die Nostalgie und das Heute aufs Korn genommen. Hovenbitzer macht „Die oberen Zehntausend“ gleich zum Schwachsinn. Das ist ein entscheidender Unterschied.