Trotz Wasserschäden durch massive Sommerunwetter am Bühnenportaldach zwei Tage davor kam es unter Einsatz aller doch noch zur Uraufführung des ambitionierten Musiktheaterprojekts „Das Biest kann schwimmen. An Luthers langer Tafel“. Ein beträchtlicher und glänzend gemeisterter Kraftakt ist das. Tobias Rohe hat für diese erste Gemeinschaftsprojekt des Kinderchors der Oper Leipzig und der Jugendmusiziergruppe „Michael Praetorius“ ein stimmiges Genrebild kombiniert. Dabei ist dieser Beitrag im durch Event-Überfülle leicht ermüdeten Reformationsjubiläum ein echter Wurf. Mit nur einem Nachteil: Eine einzige Aufführung ist bei dieser rühmenswerten Qualität zu wenig!
Mit Recht kann sich die Oper Leipzig einen Pionier für aufwändige, vollgültige und qualitätsreiche Kinderoper nennen. Humperdincks „Dornröschen“ und Rotas „Aladin und die Wunderlampe“ sind im Repertoire, kommende Saison folgt eine Fassung von Judits Weirs „Die schwarze Spinne“. Auch dieses dialogreiche Luther-Musiktheater ist mit phantastischer Dekoration und dem auf der Hinterbühne sitzenden Jugendmusikensemble „Michael Praetorius“ letztlich ganz große Oper: Opulent, kurzweilig und engagiert in allen Solo-, Tanz- und Chorpositionen.
Der Text von Tobias Rohe überzeugt als steile Spielvorlage, die von der Regie (Anett Krause), musikalischer und Chorleitung (Sophie Bauer), Einstudierung (Sylvia Hartig, Andreas Künzel), Tanz (Sigrid Römer) und Dramaturgie (Elisabeth Kühne) an einem ganz starken, dynamischen Strang durchgezogen wurde. Und aus einem Guss. Man zaubert richtiggehend mit wenig Etat, viel Engagement, theatraler Intelligenz und Spielfreude.
Es ist ein Tag im Leben von Martin Luther. Der ältere, gereifte erinnert sich: Martin Petzold, Ensemblesäule und hochkarätiger Bach-Evangelist vom Dienst in Leipzig - hier mit tollen, emotional dichten Dialogen und etwas viel vokalem Nachdruck für die Renaissance-Weisen und Choräle. Die Reformationshits wie „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ kommen fast alle, durchmischt mit überschäumenden Pavanen und vitalen Chören. Der Titel bezieht sich auf Luthers Satz von den bösen Seelenanteilen, die wir mit dem alten Adam in uns ertränken sollen. Die Chor- und Solodarsteller – allen voran die junge Amelie Althammer als junger Luther – sprechen bemerkenswert gut fokussierte Dialoge, bewegen sich bis zu den beiden Knaben (Paul Weber und Elias Böttrich) souverän durch die Szene. Die Gespreiztheit so mancher Education-Projekte ist hier mit leichter Hand überholt und überwunden. Das schaffen die Mitwirkenden, weil sie fast alle bekannten Theatermittel nutzen, ohne zu übertreiben oder behäbig auf den geliebten schönen Momenten auszuruhen. Wenn Luther zwischen zwei Latex-Teufelchen (Fae Morgenstern und Charlotte Pintz) und einem Engelchen in Flausch-Pink (Laetitia Schumann) ethisch kämpft und moralisch denkt, hat das gerade durch geringe Weihestimmung ganz hohe Glaubhaftigkeit. Auf der Bühne in schwarz, mit aufblasbaren Plastikblumen und sperrholzartigen, bemalten Tafeln, die „reale“ Requisiten ersetzen, bringt Sarai Feuerherdt eine bestens ansehbare ästhetische Form in die Reformationsstory mit Reichsacht, Genre- und Massenszenen, religiösen Disputen, Kindstod und Familiensorgen. Die Kostüme von Doreen Winkler machen aus der deutschen Hochrenaissance einen gewitzten Retro-Märchenwald, der das Geschehen viel besser, weil flockiger heranholt als Historismus-Kitsch.
Die Kinder (und jungen Erwachsenen bis 25) zeigen Gewitztheit mit viel individueller Energie und halten dabei immer die szenische Form. Hier ist jeder Akteur für sich gefordert, hat Eigenverantwortung und deshalb gewinnt diese Stunde einen so beglückenden Sog. Sogar etwas Zeitkritik enthält diese lutherische Offenbachiade: Der katholische Pater Donatus (Karl Buttstädt) stellt sich vor, einer von Luthers Gehilfen verhaspelt den Namen: „Detlev“… „Dorian“… Da wird es hintergründig: Wenn Amelie Althammer als Luther gegen das unzüchtige Paarungsverbot von Nonnen und Mönchen lospoltert, ist diese Produktion mit spektakulär leichtem Witz auf voller Höhe aktueller Genderdiskurse. Visuell rufen manche Stellen Erinnerungen wach an Peter Konwitschnys „Meistersinger von Nürnberg“-Inszenierung in Hamburg, das ist sicher nicht die schlechteste Spielhaltung.
Die Jugendmusikgruppe „Michael Praetorius“ hat das Spiel auf Originalinstrumenten der Namensgeber-Zeit im Leitbild. Dieses Luther-Musiktheater vergeht so licht, geistreich und stimmig, dass man am Ende nicht mehr genau weiß, ob dieser Originalklang real ist oder „nur“ durch das glanzvolle Ensemble suggeriert wird.
Wegen Bachfest, Strauss-Wochenende, Wagner-Festtagen und des Gewandhaus-Openair „Klassik airleben“ stand die bislang einzige Vorstellung von „Das Biest kann schwimmen“ viel zu wenig bemerkt im Schatten des nur schwer überschaubaren Leipziger Kultursommers. Auch deshalb: Wiederaufnahme dringend erbeten! - Bravo.