Peter Ruzicka, der erfahrene Lenker maßgeblicher Häuser und Festivals, liebt große Themen und Entwürfe. Dem Grauen des Holocaust in seiner 2001 in Dresden uraufgeführten Celan-Oper setzte er in seinem jüngsten Opus „Hölderlin. Eine Expedition“ nichts weniger entgegen als die spirituelle Errettung der Menschheit: „Es geht um die Frage, ob es für unsere Gesellschaft noch Hoffnung gibt.“ Für beide Werke hatte ihm der Intendantenkollege Peter Mussbach das Textbuch geschrieben. Er hatte Hölderlin an der Berliner Staatsoper inszenieren wollen, was sein Weggang von Berlin dann verhinderte. Als neuer Regisseur sprang Torsten Fischer, einst Schauspielchef in Köln, ein und provozierte mit seinen Änderungen den Autor, der mit Klage drohte.
Mussbachs Libretto konfrontiert poetische Texte Friedrich Hölderlins ausufernd mit dem modernen Alltagsjargon der Ellbogengesellschaft in Kaufhaus-, Fitness-, Fernsehstudio- oder Swingerclubszenen. Fischers routinierte Inszenierung verschleierte diese Kontrastdramaturgie wie auch das Vor und Zurück zwischen Gegenwart und Vergangenheit und machte so die Chronologie der Expedition recht undurchsichtig.
Namenlosen Menschen standen als Alter Ego ebenso namenlose Götter gegenüber; sie waren im Stil der Hölderlin-Zeit mit Frack und Zylinder gekleidet, obwohl schon der Dichter seine eigene Epoche als gottlos angesehen hatte. Im Zentrum ein Darstellerpaar: ein Schauspieler (Markus Gertken), der Hölderlin-Texte deklamierte, und ein Sänger, der sie gelegentlich auch sang (optisch beeindruckend, aber stimmlich gelegentlich überfordert, Dietrich Henschel).
Mehr als Singen und Musizieren charakterisierten Sprechen, Schreien und Schreiten die Aufführung. Der unverzerrt dargebotene Text blieb trotz zusätzlicher Untertitel rätselhaft. Es geschah einfach zu viel und zu unstrukturiert in zu kurzer Zeit, wenn die zu Beginn aufgesammelten Katastrophenopfer erneut sprechen lernten, zum Glauben fanden, eine Madonnenfigur aufhängten und wieder herunterrissen und schließlich vor der Silhouette des Palasts der Republik – in eine Diktatur gerieten. Die Geschichte der Menschheit als eine Geschichte der Menschenverachtung, Brutalität und Gottlosigkeit.
Im Einerlei des Zeitflusses und einheitlicher Plattenbauten (Bühnenbild: Herbert Schäfer) gingen die vier Akte ohne Zäsur ineinander über. Statt in einer Eislandschaft lagen zu Beginn die Opfer einer apokalyptischen Katastrophe in großen Wasserbecken, die insgesamt mehr zur Verwässerung als zur Verdeutlichung beitrugen. Sinn machten sie erst bei schweren Regenfällen und im Schlussbild, als eine arkadische Landschaft am Meer zu sehen war. Der hier vorgestellten Vision einer „schönen Einsamkeit“ im Einklang mit der Natur entsprachen hochtönende Hölderlin-Worte („Wir können uns auf dem Berge des weiten Himmels und der freien Luft freuen“) und eine emphatische Streicherlinie, die anschwoll und verschwand. War das die versprochene Spiritualität? Der Komponist, der selbst am Pult stand, hatte bis dahin mit Ausnahme weniger Klanginseln, sirrender Flächen und einer leitmotivisch wiederkehrenden Tristan-Reminiszenz der tiefen Streicher, Musik nur sparsam verwendet und fast verweigert. Die lange Streicherlinie bedeutete einen Ausgleich, aber keine Erfüllung.
Die Dichtung Friedrich Hölderlins hat schon zeitgenössische Komponisten wie Holliger, Maderna, Nono, Pousseur, Reimann, Rihm und Zender beflügelt. Für Peter Ruzicka ist ihre Aktualität heute, „zu Beginn eines spirituell geprägten 21. Jahrhunderts“ sogar gewachsen. Erwartungen an seine Oper schürte er durch die Veröffentlichung von Vorstudien wie sein Orchesterstück „Vorecho“ und das Streichquartett „Erinnern und Vergessen“ sowie durch Interviews, in denen er nach der früheren Fragmentästhetik eine neue sinfonische Großbogigkeit ankündigte.
Davon, wie von einer „Wiedergewinnung des Kantablen“, war wenig zu verspüren. Es schien, als habe der Respekt vor dem Dichterwort die musikalische Phantasie beschnitten. Der freundliche Beifall der zahlreich erschienenen Freunde des Komponisten (darunter die Kollegen Halffter, Lachenmann, Matthus, Reimann, Rihm) verbarg nicht die Enttäuschung der hohen Erwartungen. Ein neues spirituelles Zeitalter dürfte diese neue Oper noch weniger einläuten als die von Messiaen und Stockhausen.