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Foto: Candy Welz
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Der „entfesselte Durchschnitt“ – DDR-Punk beim Kunstfest Weimar

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Beim Kunstfest Weimar geht es nicht nur um „100 Jahre Kommunismus“ oder die Revitalisierung des Lebensgefühls der späten DDR, auch wenn man diesen Eindruck bei diesem Konzert hätte bekommen können. Hier fanden sich wirklich alle ein, die für oder gegen den schönen Schein der Klassikerstadt agierten, an dem man zwischen Deutschen Nationaltheater, Ilmpark und Kunsthochschulen bereits vor 1989 kräftigst polierte.

Der Infotext nennt Weimar „sozialistische Provinz“ – also etwas, was es nach der offiziellen DDR-Verlautbarung eigentlich nicht mehr gab. Da klemmt die Vergegenwärtigung aus dem letzten DDR-Jahrzehnt in die Gegenwart etwas. Sie klemmt allerdings nicht in der Wahl des Ortes, bei der das Kunstfest Weimar wieder einmal mit einer Überraschung aufwartet: Toll renoviert ist die Fassade des Alten Schlachthofes zwischen Bahnhof und der Straße nach Tiefurt. Eigentlich eine Parade-Eventlocation, deren geplanter Ausbau zum Einkaufszentrum nicht realisiert wurde. Heute steht das Areal, das sich im Besitz eines privaten Investors findet, mit Gerüsten an den Innenmauern leer.

„Wir sind der entfesselte Durchschnitt“, das ist der Titel einer CD aus dem Jahre 1998. Knappe zehn Jahre nach dem Mauerfall bauten die Bands „Galgenvögel / Partisan“, „Die Küchenspione“, „Madmans“, „O.T.Z.E.“ (O-rdentlich, T-reu, Z-uverlässig, E-hrlich), „Rote Nelken“ sowie „Timur und sein Trupp“ in dieser Eigenproduktion mit dem Haus für Soziokultur eV an der eigenen Legende: Musik aus dem „Untergrund“. Auf „thueringenpunk.de“ und Gigs wie einem Auftritt der „Madmans“ an Heiligabend 2007 in der Gerberstraße Weimar hält sich fast bis in die jüngste Gegenwart der früher erworbene Nimbus: Subversion im Schutz der Kirchen bei strenger und annähernd lückenloser Beobachtung durch die DDR-Staatssicherheit. Überlebensstrategien standen im ständigen Spagat zwischen Anpassung, Kritikanspruch und der Verteidigung eines oppositionellen Lebensstils. So war der Erhalt der staatlichen Spielerlaubnis 1983 für die mit Unterbrechungen immerhin bis 2013 bestehenden „Madmans“, deren Rumpfbesetzung (Holger Friedrich und Frank Huschka) an diesem Abend zu hören war, für die Musiker sicher nicht nur eine Anerkennung. Auf der titelgebenden CD heißt es „Punk, Avantgarde & Wave aus Weimar“. Über zweihundert Kartensucher stehen Schlange für das ausverkaufte Konzert.

Der Abend wirkt auf den auswärtigen Festivalbesucher wie ein Ritual. Die Stimmung ist korrekt, sehr aufmerksam und kein bisschen nostalgisch wie vergleichbare Events in den alten Bundesländern. Auch hier bestätigt sich offenbar: „Fünfzig“ sind die neuen „Dreißig“. Leicht übersteuert und in der genrespezifischen Überlautstärke kommt man erst später ins Swingen. Der „entfesselte Durchschnitt“ zeigt sich auch in Analogien der Liedtexte. Wenn es nicht gerade um die Aufzählung der Haltepunkte des regionalen Nahverkehrs Weimar geht (da war die „Linie1“ vom Grips-Theater wesentlich später dran), haben die Texte ein heute noch erstaunlich anspringendes Niveau.

Am spannendsten aber: Der Monitor mit einer Bilderschleife aus der wilden Weimarer Szene-Vergangenheit. Da ist das Puschkin-Denkmal ein bevorzugter Hintergrund für Porträts der Einsteiger-Bands, kommt immer wieder die Unimensa als DDR-Paradebau ins Bild. Aus den Schwarz-Weiß-Bildern blitzt einem trotzdem die Lust am Anderssein im ganz klar abgesteckten Revier entgegen. Das hatte in der Kunst- und Vorzeigestadt Weimar möglicherweise mehr Reibungsfläche und im dort kultivierten West-Vorzeige-Tourismus auch ein größeres Lustpotenzial als in anderen DDR-Städten.

Neben der Besichtigung von Teilaspekten beim Parcours „Ein Gespenst geht um…“ zu sozialistischen Orten der Stadt und dem globale Wirtschafts- und Technologiebewegungen reflektierenden Projekt „Chinaafrika.mobile“, das kleine Gruppen in Autos zu Industriespuren und Stadtwüsteneien bringt, ist der „entfesselte Durchschnitt“ aus heutiger Perspektive ein auch pittoresker Splitter im Kunstfest Weimar 2017. Das belegt sogar die Getränkezufuhr durch das Team vom Kasseturm. In dieser Kultlocation nahmen mehrere der Band-Karrieren ihren bejubelten Anfang.

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