Nach dem Abgang von Ulrich Eckhardt und seinem bewährten Team hatte der Neubeginn der Berliner Festwochen unter seinem Nachfolger Joachim Sartorius zunächst unter einem schlechten Stern gestanden: im Herbst 2002 fand die bunte und oft zusammenhanglose Programmfolge meist vor halbleeren Sälen statt. Die Entscheidung für den Russland-Schwerpunkt dieses Jahres tat dem Festival gut und gab ihm wieder Profil.
Im Bereich Musiktheater zeigte man so nicht nur in einem Gast spiel des Mariinsky-Theaters St. Petersburg wichtige Opern von Schostakowitsch („Lady Macbeth von Mzensk“), Prokofieff („Der feurige Engel“) und Tschaikowsky („Eugen Onegin“), sondern auch drei neue Produktionen aus Westeuropa. Dass dabei die Niederlande bevorzugt wurden, dürfte sich aus der Herkunft von André Hebbelink, dem künstlerischen Leiter Musik, erklären. Da ihm der Komponist Louis Andriessen besonders am Herzen liegt, folgten auf das Porträtkonzert des Vorjahres jetzt in deutschen Erstaufführungen Andriessens „Inanna“ sowie die Kammeroper „One“ seines Schülers Michel van der Aa. Diese Koppelung erwies sich als interessant, besitzen beide Werke bei aller (video-)ästhetischen Verwandtschaft doch genügend Originalität.
„One“ kommt mit sparsamsten Mitteln aus. Die Produktion benötigt weder Sängerensemble noch Orchester und statt einer Szenerie nur einen Stuhl und einen Tisch, dazu eine einzige, von Video und Soundtrack unterstützte Solistin. Wie ein Prometheus des Musiktheaters hat der 1970 geborene Michel van der Aa alles selbst geschaffen: Musik, Bild und Buch. Als Vorlage verwendete er den 1981 erschienenen Roman „Der Verlust“ von Siegfried Lenz, in dem ein Fremdenführer nach einem Schlaganfall seine Sprache und damit seine Identität verliert. Dieses Identitätsproblem greift auf „One“ und seinen Schöpfer über – beide sind nicht, was sie zu sein vorgeben. Van der Aa ist eher Videokünstler und Tontechniker als Komponist, und sein Werk eher Monodram als Oper. Während es vom Lenz-Roman nur Einzelmomente aufgreift – das Formprinzip der Spiegelung und das Problem der Kommunikationsunfähigkeit –, folgt die Handlung Schönbergs „Erwartung“: eine verängstigte Frau geht in einen Wald und tritt auf knackende Äste, die sie als Knochen eines toten Menschen empfindet.
Musikalisch ist „One“ ein Gegenentwurf zur „Erwartung“. Der chromatischen und polyphonen Aufspaltung des Tonmaterials bei Schönberg steht bei van der Aa die Suche nach Einfachheit und Identität gegenüber. Seine Ausgangsmaterialien sind der gehaltene Einzelton und das Knackgeräusch. Während Schönberg Wiederholungen mied, stellen sie für die minimalistische Ästhetik des jungen Niederländers Grundprinzipien dar. Die kanadische Sopranistin Barbara Hannigan, für die „One“ entstand, wird auf Soundtrack und Video permanent mit ihrem eigenen Singen und Spielen konfrontiert. Dabei stellt sich die Frage von Henne und Ei: Folgt die Technik den Aktionen der Sängerin oder reagiert diese nur auf das vorgegebene Programm? Die Besucher, die das Haus der Berliner Festspiele durch einen labyrinthischen Gang betreten mussten, werden absichtsvoll verunsichert.
Am Text entlang komponiert
Das Gleiche ist nicht das Gleiche. Auch Param Vir, ein Schüler von Oliver Knussen, befasst sich in seiner Oper „Ion“ mit dem Problem der Identität. Wo aber van der Aa der Roman-Vorlage von Lenz eine ganz eigene Gestalt gegeben hatte, lehnt sich der aus Sri Lanka stammende Komponist sklavisch an die von David Lan adaptierte Tragödie des Euripides an. Dabei ist die Handlung originell und opernhaft: Ion, das uneheliche Kind von Apoll, wird von seiner Mutter Creusa nichtsahnend fast vergiftet. Erst spät entdeckt er die Blutsverwandtschaft und damit seine ihm bislang verborgene Herkunft. Die Handlung beschränkt sich auf einen einzigen Schauplatz, die Stufen vor dem Tempel von Delphi. Dessen Inschrift „Erkenne dich selbst“ ist das Thema des Dramas wie der Oper.
Leider bedeutete dieses Motto für den Komponisten vor allem die Erinnerung an seine Jugendjahre in Indien, wo er sich ausgiebig mit griechischer Philosophie befasst hatte. Respektvoll vertonte er nun das Drama, ohne die Notwendigkeit einer Oper einsichtig machen zu können. Zweifellos beherrscht Vir das kompositorische Handwerk. Aber trotz aller farbigen Virtuosität fehlt seiner dicht gearbeiteten Partitur der dramatische Impuls. In ihrem symphonischen Anspruch bezieht sie sich allzu selten auf die Szene, ohne sich andererseits von ihr genügend abzusetzen.
Kommentierende Klänge
Louis Andriessen, in Europa wohl der wichtigste minimalistische Komponist, ließ dagegen keinen Zweifel über seine künstlerischen Absichten. Sein Musiktheater „Inanna“ ist eine kraftvolle Alternative zu „Ion“, zeigte es doch, wie produktiv und innovativ man mit antiken Mythen umgehen kann. Wie Apollo, der Creusa vergewaltigte, begibt sich auch Inanna, die assyrische Göttin der Liebe, der Fruchtbarkeit und des Krieges, zu den Menschen. Sie bleibt dort, heiratet einen Schäfer und macht ihn zum König. In ihrem Wissensdrang geht sie sogar in die Unterwelt, wo ihre Schwester herrscht. Diese bestraft die eigenmächtige Inanna mit dem Tode und einer Dürrekatastrophe auf der Erde. Nur unter größten Schwierigkeiten kann ihr Vater, der Wassergott Enki, seine Tochter ins Leben zurückrufen.
Diesen märchenhaften Sagenstoff ließ Andriessen nicht von einem Schriftsteller, sondern von dem New Yorker Filmemacher Hal Hartley zum Libretto verarbeiten. Anstelle einer konventionellen linearen Erzählweise kommt es dadurch zu einer visuell geprägten Dramaturgie filmischer Schnitte.
Da dies mit herkömmlicher Oper nichts mehr zu tun hat, war die Schaubühne am Lehniner Platz der passende Aufführungsort. Zu Beginn bekommt man fast den Eindruck, man wäre in der falschen Veranstaltung, etwa in einer Volkshochschule: mit gespielter Nervosität tritt eine Frau nach vorne, erklärt die Handlung, die bei der irakischen Stadt Basra anzusiedeln sei. Sie liest einige Abschnitte in sumerischer Sprache vor und erklärt mit Projektionen das Weltbild der alten Assyrer. Fast unmerklich werden ihre unbeholfenen Erklärungen von Bildern und elektronischen Klängen überlagert – man befindet sich schon inmitten des Werks. Faszinierend ist bereits der erste Auftritt der Göttin, deren Traum von reiner Menschlichkeit Videos spielender Kinder zugleich illustrieren wie ästhetisch aufbrechen. Noch stärker verfremdet wird ihr Vater dargestellt, der Wassergott, der grollend in einem riesigen Aquarium wütet. Inannas Mann, der vom Schäfer zum König aufstieg, erscheint dagegen als ein aalglatter, von Anwälten umgebener Manager im weißen Anzug. Während er Flugbewegungen andeutet, sieht man in Großprojektionen Luftbilder des heutigen Basra, mit Straßen, Staudämmen und vielen Bombenkratern.
Schon sind wir in der Unterwelt, wo gespenstische schwarze Gestalten sich zuckend dahinschleppen. Inanna und ihre ebenfalls ins Totenreich eingedrungenen Begleiter stellen dem Tod das Prinzip Leben gegenüber, so dass in einer Orgie von Hieronymus Bosch’schem Format Todes- und Liebeszuckungen sich überlagern. Die kraftvolle Szenerie und dazu der ständige Wechsel von englischer und sumerischer Sprache ermöglichen den gewagten Zeitsprung zwischen assyrischer Geschichte und irakischer Gegenwart. Indirekt knüpft Andriessen damit an seine 1969 entstandene Vietnam-Oper „Reconstructie“ (Wiederaufbau) an. Die Bombardements und die Zerstörung von Kulturschätzen sind gegenwärtig, ohne dass der Sagenstoff damit verlassen wird.