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Ein mehrstöckiger Bühnenmolloch mit mehreren großen Bildschirmen in einer dunklen Halle. Rechts ist für das Orchester aufgebaut.

Raumbühne (von Sebastian Hannak) in Kassel. Foto: Sebastian Hannak

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In der Raumbühne des Staatstheaters Kassel ist die Carmen los – Florian Lutz hat das Spektakel inszeniert

Vorspann / Teaser

Sie haben es wieder getan: Regisseur Florian Lutz und sein „Hausszenograf“ Sebastian Hannak haben auch für ihre „Carmen“-Inszenierung zum Spielzeitauftakt das ganze Theater in eine Raumbühne verwandelt. Wie schon während der ersten Intendanz von Lutz in Halle hat dieses Duo den klassischen Guckkasten mit seiner Unterteilung in Zuschauer- und Bühnenraum sowie Orchestergraben aufgebrochen und die Bühne, samt Neben- und Hintergelassen, in einen Erfahrungsraum für teilnehmende Zuschauer dem klassischen Auditorium hinzugefügt. Diese Raumbühnen, die jeweils für eine Reihe von unterschiedlichen Inszenierungen den Rahmen bilden, sind zu einem Markenzeichen geworden. Die dafür aktuell verbauten 60 Tonnen (!) Stahl verteilen sich allerdings auf insgesamt elf Projekte, darunter drei Uraufführungen, Mozarts „Don Giovanni“, Verdis „Otello“ und Rihms „Hamletmaschine“.

Jede Variante dieser im Kern ähnlichen, aber konkret variierenden Raum- und Perspektivenveränderung hat einen ambitioniert assoziativen Eigennamen – die erste in Kassel hieß „Pandämonium“, die aktuelle heisst „Antipolis“. Also eine Art „Gegenstadt“, die trotzig das utopische, wenn nicht bewusstseinsverändernde, so doch das bewusstseinserweiternde Potenzial von Musiktheater behauptet. Und auf der Gegenwartsrelevanz dieser Kunstform besteht. Hier trifft sich der Ehrgeiz eines Theaters der Unmittelbarkeit mit den Resten einer kunstnotwendigen Großzügigkeit.

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Für „Antipolis“ ist der gesamte Bühnenraum, inklusive Neben- und Hinterbühne, mit dem Abbild einer dreistöckigen Plattenbaufassade begrenzt. Davor ist ein Baugerüst mit mehreren Etagen für Zuschauer aufgestellt, bei der quasi jeder in der ersten Reihe sitzt. Auf der Bühne sind vor dem dort für alle sichtbar agierenden Orchester unzählige Arbeitsplätze für die Zigarettenarbeiterinnen postiert, die die Marke „Bohemiens Blondes“ fertigstellen. Jede Packung ziert neben dem Namen ein stilisierte Stier, nebst dem Vermerk „Liberté toujours“. Da, wo sonst die Warnung vor der Schädlichkeit des Rauchens zu finden ist, steht hier „Staatstheater Kassel“. Ein Schelm, wer das für eine Warnung hält…

Einige Zuschauer (bei der Premiere vor allem die Pressevertreter) werden als kurz vorher eingewiesene „inoffizielle Mitarbeiter des Verfassungsdienstes“ eingeschmuggelt. Sie werden via SMS dirigiert (funktioniert tatsächlich) und wechseln nach der Pause auf die Ränge des Baugerüstes, denn da wird die Fläche zwischen Orchester und Rampe als Spielfläche benötigt. Allein schon, um den Aufmarsch der Chormassen zu bewältigen. Wobei der Opernchor und vor allem der Kinder- und Jugendchor ganz hervorragend seinen Gesangspart mit dem Spiel verbindet.

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Gleiche Perspektive wie das Hauptbild, aber: Chor, Statisterie aber auch einzelne Zuschauerinnen füllen mit blauen Kitteln die Arbeitsplätze der Zigarettenfabrik.

Foto: Sebastian Hannak

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Um unauffällig zu bleiben, sind zunächst auch die eingeschmuggelten Zuschauer angehalten, ebenfalls die blauen Arbeitskittel überzuziehen und bei der Zigarettenherstellung mitzuarbeiten. Bald wird klar, dass es unter der weiblichen (Chor-)Belegschaft rumort. Eine Polizeiwache und die Aufsicht der Produktion sind im Rang und an den Seiten postiert. 

Dass diese „Carmen“ in die Gegenwart verlegt ist, wird nicht nur an den Kostümen und den Polizeiuniformen, sondern auch an der demonstrativ durchgängigen Verwendung des Begriffes Boheme anstelle des traditionellen, mittlerweile tabuisierten historischen Begriffes für Sinti und Roma in den deutschen Übertiteln zum französischen Gesang ebenso unmissverständlich behauptet, wie an den per Video eingespielten, altklugen, stellenweise ironisch gebrochen rüberkommenden Kinderstimmen zu Kapitalismus, Staat, Männlichkeit und allem möglichen Drumherum. Und an den eingeblendeten Breaknews-Laufbändern, die nach der sexy Terroristin Carmen fahnden, nachdem der Polizist Don José ihr zur Flucht verholfen hat. Carmen wird in dieser Inszenierung nicht nur zur selbstbewussten Vorkämpferin ihrer eigenen Freiheit in der Liebe, sondern auch zur Exponentin einer anarchischen Auflehnung. Sie wird hier am Ende denn auch nicht von ihrem Ex-Lover ermordet, sondern führt ihre bunte, teilweise maskierte Truppe aus dem Theater. Wer weiss wohin. Am Premierentag hatte übrigens die echte hessische Polizei kurz vor der Vorstellung damit zu tun, nicht weit vom Theater entfernt, eine verbotene Demonstration aufzulösen, was ihr mit klaren Ansagen und lehrbuchhafter Deeskalationsstrategie auch gelang.

Zum Aufruhr der Outlaws in der Oper steuert der Greta-Sound der Kinder-Einspieler einen streitbaren ideologischen Überbau bei. Dadurch bekam auch die Carmen-Musik, der Kiril Stankow, mit dem Orchester gehörig einheizte, einen ernsthaften, ja revolutionären Unterton. Für den Teil der Zuschauer die in der Raumbühne postiert sind, wirkt das direkter als für jene, die dem Geschehen vom Zuschauerraum aus folgten. Man ist in der Raumbühne zwar auch nicht näher an jener Wirklichkeit, die die Oper einfängt, dichter an deren Herzschlag ist man aber schon. Und wo gibts schon die Chance, einer attraktiven Carmen so nah zu kommen.

Ilseyar Khayrullova bewältigt für diese klischeebeladene Figur darstellerisch und vokal spielend den Spagat zwischen verführerisch und revoluzzernd selbstbewusst. Tenorgast Aldo di Toro ist ein vokal erstklassiger Don José, dessen Beamtenhabitus haargenau zu seinem Scheitern am Ende passt. Margrethe Fredheim behauptet sich als Micaela in Uniform vehement, während Filippo Bettoschi die Transformation vom Stierkämpfer zum Fussballstar darstellerisch besser gelingt als vokal. Don Lee als Zuniga, Johannes Strauß als Remendado, aber auch Marie-Dominique Ryckmanns als Frasquita und Daniela Vega als Mercédès komplettieren ein überzeugendes Protagonistenensemble. Zu dem zählen diesmal auch der Opernchor (Marco Zeiser Celesti) und vor allem die jungen Mitglieder des von Fiona Luisa bestens motivierten Kinder- und Jugendchors CANTMUS. Allesamt raumfüllend in der Balance zu halten, ist eine Herausforderung, die das Orchester und die Technik in Kassel mittlerweile beispielhaft beherrschen. 

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