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Die Arbeit an einer europäischen Identität

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Warschauer Herbst und Symposion des Deutschen und Polnischen Musikrats
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Das Musikfestival Warschauer Herbst legt auch heute noch erstaunliche Vitalität an den Tag. In den 60er- und 70er-Jahren konnte die musikalische Avantgarde nicht an ihm vorbei. Damals war das Festival Umschlagstelle der kompositorischen Neuerungen in Ost und West. Polens zu dieser Zeit gegenüber anderen Staaten des sozialistischen Lagers freizügigere Politik in Sachen Kultur hatte günstige Bedingungen in weithin ungünstiger Landschaft geschaffen. Polnische Komponisten wie Lutoslawski, Penderecki oder Gorecki mischten munter die Palette der musikalischen Experimente auf. Und weder Stockhausen noch Cage vermochten das neugierige Publikum zu erschrecken. Der Staat deckte großzügig die Kosten und wollte damit wohl auch unterstreichen, dass dem selbstbewussten, streng katholischen Polen im Ostblock ein Sonderstatus zukam.

Das Musikfestival Warschauer Herbst legt auch heute noch erstaunliche Vitalität an den Tag. In den 60er- und 70er-Jahren konnte die musikalische Avantgarde nicht an ihm vorbei. Damals war das Festival Umschlagstelle der kompositorischen Neuerungen in Ost und West. Polens zu dieser Zeit gegenüber anderen Staaten des sozialistischen Lagers freizügigere Politik in Sachen Kultur hatte günstige Bedingungen in weithin ungünstiger Landschaft geschaffen. Polnische Komponisten wie Lutoslawski, Penderecki oder Gorecki mischten munter die Palette der musikalischen Experimente auf. Und weder Stockhausen noch Cage vermochten das neugierige Publikum zu erschrecken. Der Staat deckte großzügig die Kosten und wollte damit wohl auch unterstreichen, dass dem selbstbewussten, streng katholischen Polen im Ostblock ein Sonderstatus zukam. Dass die Verlaufskurve der Bedeutung ab den 90er-Jahren steil nach unten führte verwunderte keinen. Eher schon verblüffte die Hartnäckigkeit, mit der man trotz der plötzlichen Finanzknappheit und dem Wegfall der Drehscheibenfunktion an der Idee des Warschauer Herbstes festhielt. Der Hymnentext „Noch ist Polen nicht verloren“ ist eine Geisteshaltung, die sich scheinbar in jedem Tun festschreibt. Und so kann man jetzt wieder konstatieren, dass das Festival im neuen, postsozialistischen Gewande sich wieder dem ehemaligen Glanze nähert. Der junge Festivalleiter Tadeusz Wielecki und seine Berater, zum Beispiel der äußerst umtriebige und hellwache Andrzej Chlopecki, haben es geschafft, ein ganz junges Publikum für die Sache zu begeistern. Und man spürte sofort: die Anteilnahme ist nicht verordnet oder aufgesetzt, sie ist wirkliches Anliegen der jugendlichen Zuhörer. Die Veranstaltungen waren teilweise hoffnungslos überfüllt. Vielleicht ist die geistige Weite mit verantwortlich.

Da sprach zum Beispiel auf dem parallel veranstalteten Symposion über Musikfestivals der Komponist Krzysztof Knittel von der Liebe Gottes, für die der polnische Papst durch die Länder jettet, er sprach von der Utopie des Unmöglichen, die diese Liebesbotschaft beinhaltet: Und am Abend packte er sein elektronisches Equipment aus, um mit der Gruppe „Freight Train“ einen futuristischen Science-Fiction-Film der frühen Sowjetunion („Aelita“ von Jakov Protazanov, 1924) mit orgiastischen Klangkaskaden und Videokoppelungen zu begleiten. Ein Widerspruch?

Jedenfalls wurde die Mischung aus Komposition und Improvisation zu einem Höhepunkt des diesjährigen Warschauer Herbstes. Unerschrocken griff man rhythmische Sequenzen der rasanten Schnitt-Techniken auf und transformierte sie zu orgiastisch geballten Ladungen aus Kreischklängen, Zitatfetzen und hämmernden Schlägen: Musik wie aus der Maschinenpistole, in die ein einfühlsam pochendes, schutzloses Herz eingepflanzt schien.

Höhepunkte: Da war eine genau und subtil komponierte Kammeroper des Litauers Osvaldas Balakauskas auf einen mystischen Text von Oscar Vladislav de Lubicz Milosz, deren dramatische Umsetzung (Piotr Lazarkiewicz) leider etwas aus dem Ruder lief. Vielleicht muss man warten, bis das Gesamtkonzept steht. Denn es sind drei Kammeropern unter dem Blake-Obertitel „Das Land Ulro“ auf visionäre Texte. Letztes Jahr gab es schon die Multimedia-Oper „Tattooed Tongues“ des Niederländers Martijn Padding nach Texten von Swedenborg, nächstes Jahr wird Barbara Zawadska mit „Grains“ nach William Blake die Trilogie abschließen. Die drei Stücke sind als Einheit gedacht, als mystisches Mobile heterogener Blickwinkel. Die schon angesprochene Finanzknappheit spaltete das Projekt. Aber vielleicht kann dieses Gesamtkunstwerk der dritten Art doch noch nach dem Vorliegen des letzten Teils als Tryptichon verwirklicht werden.

Höhepunkt war sicher auch die Entdeckung der rumänischen Komponistin Irinel Anghel mit dem Trio „Pro Contemporiana“. Das ist eine Frau, Anfang 30, die wegen furchteinflößender und vom forschen Outfit noch unterstrichener Dürre jeden Moment zu zerbrechen droht, die aber alles durch Domina-artige Power ausgleicht. So ist auch ihre Musik: wirr durchpulste, energiegeladene Landschaften, höchst eigenwillig, exzessiv, geheimnisvoll, klar wie Wodka und unverwechselbar im Geschmack.

Vieles ließ aufhorchen. So konnte zum Beispiel ein spätes Streichquartett „Symphony of Rituals“ des vor einem Jahr in Berlin gestorbenen Polen Witold Szalonek mit über fünfjähriger Verspätung uraufgeführt werden: Ein janusköpfiges, trotz 50-minütiger Dauer äußerst konzentriertes Alterswerk mit Blick zurück und zugleich in die Zukunft. Und auch die Wiederbegegnung mit dem unbeugsam seinem Kunstauftrag nachgehenden polnischen Komponisten Roman Berger, der Anfang der 50er-Jahre ins slowakische (!) Exil geschickt worden war, wurde zu einem geradezu exorbitanten Erfolg. Im prall gefüllten Raum (mit offenen Türen, um weiteren Zuhörern die Teilnahme zu ermöglichen) mischte sich das junge Publikum mit Freunden aus vergangener Zeit.

Einen Höhepunkt der anderen Art bildete die europäische Erstaufführung von Krzysztof Pendereckis Klavierkonzert mit dem Pianisten Barry Douglas. Mit „Auferstehung“ ist es betitelt, darunter macht es Penderecki heute nicht mehr. Der 11. September fiel mitten in die Arbeit am Werk und kehrte seine inhaltliche Ausrichtung um. Wie in einem Rachefeldzug gegen die ehemalige Avantgarde scheint sich Penderecki heute einen Spaß daraus zu machen, herauszukitzeln, wie viel an Klischees ein Komponist heute aufzutischen vermag. Ihm helfen eine exorbitante Sicherheit bei der Gestaltung des orchestralen Klangs und ein untrügliches Gespür für zeitliche Verlaufskurven. Das rettete den Rachmaninow-Schinken mit siegbringenden Trompeten von der Empore, mit Choral-Emphase und heilsverkündenden Glocken. Wo jeder etwas reflektiertere Filmkomponist ästhetische Bedenken hätte, greift Penderecki ungeniert ins Volle. Es ist Musik eines Anstreichers, die Farbe glänzt peinlich, aber sie glänzt. Beim Publikum mischten sich Buhs und demonstrative Begeisterung.

So setzte man auf Offenheit nach allen Seiten. Das macht viel Sinn in einer Landschaft, in der Sichtung von Tendenzen Vorrang hat vor einer ideologiefesten Verteidigung ästhetischer Positionen. Das Warschauer Publikum erkennt diese vorurteilsfreien Bestrebungen an und verfolgt ebenso gespannt wie zahlreich die verschlungenen Gänge der musikalischer Neuerungen.

Das Symposion

Dass der Deutsche Musikrat zusammen mit seinem noch heranwachsenden polnischen Verbandspartner in diesem multiperspektivischen Umfeld ein gemeinsames Symposion platzierte, war also gut positioniert. In gut einem Jahr wird Polen in die EU integriert werden und die Arbeit an einer europäischen Identität braucht kulturelle Unterfütterung als Lebenselexier. Doch auch Ängste grassieren (der Große schluckt den Kleinen, der Kleine saugt den Größeren aus). Diese Gräben suchte man zuzuschütten. Arbeitskollegen wurden zusammengebracht, Rundfunkleute, Verleger, Veranstalter oder auch die GEMA mit dem polnischen Pendant ZAiKS. Und man begann konkrete Projekte in Angriff zu nehmen, etwa ein deutsch-polnisches Musikfestival in Berlin und vielleicht in Warschau. Das soll 2004 stehen.
Wirklich kann europäischer Zusammenschluss, das Vertrauen untereinander nur gedeihen, wenn man sich auch der gemeinsamen kulturellen Wurzeln besinnt, diese belebt und ausweitet. Schon im letzten Jahr hatte man sich in Warschau getroffen, um das Feld in bezug auf Übereinstimmungen und Unterschiede zu sondieren. Daran knüpfte man in diesem Jahr an mit dem Ziel, konkretere Projekte anzudenken. „Festivals Neuer Musik – Eine Plattform für Kooperationen“ lautete denn auch das Motto für den ersten Tag des auf zwei Tage anberaumten Symposions. Festivalveranstalter aus Deutschland, Polen, als Gast auch aus dem slowakischen Bratislawa, tauschten Erfahrungen unter der gemeinsamen Moderation von Andrzej Chlopecki und Klaus Bernbacher aus. Freilich wurden auch Zweifel an der These laut. So hob zum Beispiel Tadeusz Wielecki, der Festivalleiter des Warschauer Herbstes, das Bestreben nach Eigenständigkeit, auch das Konkurrenzverhalten von Festivals Neuer Musik, hervor. Insgesamt wurde aus polnischen Kreisen die unausgesprochene Befürchtung laut, vom „stärkeren“ Partner Deutschland in der Eigenständigkeit beschnitten zu werden. Dennoch gab es einige gute Ansätze: So entwickelte zum Beispiel der Präsident der Gesellschaft für Neue Musik (Deutschland) Klaus Hinrich Stahmer Ideen, die musikalische Aktionen als Aufarbeitung der jüngeren deutsch-polnischen Geschichte betrachteten – von Flüchtlingsproblematik bis hin zur Bespielung ehemaliger Kohlezechen, für die das Ruhrgebiet bereits Modelle geschaffen hat. Auch Konzerte, die gewissermaßendie Festivals in Polen und Deutschland in ihren „Highlights“ fokussieren, wurden angedacht.

Für Thomas Rietschel, den neuen Generalsekretär des Deutschen Musikrats, steht es ohnehin außer Frage, dass wirksames Miteinander in erster Linie auf dem gegenwärtigen Musikschaffen, auch hin zu Jazz oder Pop, aufbauen kann. „Nur eine Musik, die in die Zukunft denkt, also die neue Musik, die avantgardistische, kann auch wirksam an der Gestaltung des Neuen teilhaben,“ meinte er. Aus diesen Richtungen kann man also in naher Zukunft Aktivitäten erhoffen und finanzielle Mittel dürften, wie etwa Sabine Bornemann vom „Cultural Contact Point“, Bonn, betonte, auch aus europäischem Topf bereit stehen. Der kurz erschienene polnische Kulturminister Waldemar Dabrowski bekundete jedenfalls Sympathie für solche Bestrebungen.

Am zweiten Tag, Moderation des nmz-Herausgebers Theo Geißler und des Direktors der Philharmonie Rzeszow Wergiliusz Golabek, stellte man sich dann umfassend Fragen des Urheberrechts. Man ist sich beiderseits bewusst, dass Musikleben ohne Klärung dieser Basisbestimmungen immer auf Sand laufen muss und ein Vortrag von Adolf Dietz vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Urheberrecht konnte in klarer Kürze und souveräner Metierbeherrschung die gegenwärtigen Rahmenbedingungen (auch mit Blick auf Probleme des Internets) abstecken.

An die 40 Referenten und Diskutanten hatten sich in Warschau am Runden Tisch versammelt, vielleicht etwas viel für nur zwei Tage. Aber die Zahl unterstrich auch das vitale Interesse am Miteinander, das immer noch von gegenseitigen Berührungsängsten, mehr aber vom Wunsch einer gemeinsam entwickelten Kulturpolitik geprägt ist. „Europäische Einigung ist schwer“, betonte denn auch Theo Geißler mit Blick auf die Notwendigkeit der kleinen Schritte. Sie aber wurden von musikalischer Seite getan. Jetzt gilt es in den nächsten Abschnitten der Zusammenarbeit konkret zu werden. Konkret aber heißt, Möglichkeiten zu schaffen, dass polnische und deutsche Komponisten und Musiker miteinander Projekte verwirklichen können. Wie groß hier das Interesse ist, belegte ein vom Deutschen Musikrat initiiertes Konzert beim Warschauer Herbst. Helmut Lachenmann, Walter Zimmermann oder Nicolaus A. Huber, solche Komponisten sind hier immer noch nicht sehr vertraut. Das Ensemble Recherche hatte sie unter anderem mitgebracht und ihre strukturelle Klarheit erweiterte den Warschauer Herbst um eine wesentliche und mit höchstem Interesse aufgenommene Facette.

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