Manche Veränderungen sind so schleichend, dass man sie kaum wahrnimmt – und dennoch können sie Ausdruck eines tief greifenden Wandels sein. Wer hätte bis vor wenigen Jahren gedacht, dass ein ehemaliges „Jazz-Kellerkind“ wie Uri Caine das Eröffnungskonzert des Traditionsfestivals Yehudi Menuhin in Gstaad bestreitet. Caine improvisierte am Klavier über und zur Aufführung der „Variationen und Fuge auf ein Thema von Händel“ von Johannes Brahms in seiner Version für Klavier und Kammerorchester.
Der Skandal blieb aus, im Gegenteil, das Publikum, eine Mischung aus Kennern und Konservativen, gab Standing Ovations. Unabhängig von der Güte des Experiments kann man den Veranstaltern bescheinigen, dass sie ihr Kammermusikfestival ganz im Sinne des „Erfinders“ Yehudi Menuhin weiter entwickelt und entstaubt haben. Dass Caine gerade nach Gstaad engagiert wurde, ist kein Zufall: Der künstlerische Leiter des Menuhin Festivals, Christoph Müller, ist Intendant des Kammerorchesters Basel.
Das Brahmsprojekt hatte schon 2004 als Auftragswerk zum 20. Geburtstag des Kammerorchesters in Basel Premiere. So gelangte in der Kirche in Saanen ein Experiment auf die Bühne, das als Konzept schon seine Bewährungsprobe hinter sich hatte. Caine – einer der wenigen Künstler, die sich kompetent in Klassik und Jazz bewegen – wendete seine Improvisations-, Dekonstruktions- und Variationsprinzipien bereits auf Werke von Mahler, Wagner, Schumann und Bach an. Die Herausforderung, die ihm in den Variationen von Brahms begegnete, waren besondere: Der Reiz lag in der Brechung der ursprünglichen Intention Brahms. Denn auch dieser hatte kein typisches Variationenwerk seiner Zeit geschaffen, sondern vielfältige historische Bezüge hergestellt: Brahms lehnt sich an den barocken Vorwurf in Harmonik und Periodik vielfach an, beschließt das Werk mit einer Fuge und benutzt verschiedentlich das „altmodische“ Verfahren der Fundamentbass-Variation. So wie Brahms Händels Thema in die Moderne des 19. Jahrhunderts transferiert hatte, so tat dies 150 Jahre später Caine.
Zweites Werk des Eröffnungskonzertes, Schumanns Sinfonie Nr. 4 op. 120, wurde interessanterweise nicht in der Fassung für großes Orchester gespielt , sondern in der ersten Fassung (von 1841) für kleines Orchester. Das Basler Kammerorchester führte das Werk stehend auf, wie bei der Uraufführung in Leipzig. Eine spannende Sache, auch wenn Dirigent David Stern Mühe hatte, seine Musiker, die durch die Architektur der Kirche völlig auseinander gezogen platziert waren, und zugleich in einer übervollen Kirchenakustik sich nur schwer hörten, zusammenzuhalten. Das waren Kleinigkeiten im Vergleich zur großen Aussage: ein großes Werk der Romantik, zeitgenössisch dargeboten. Ob dies als Motto fürs ganze Menuhin Festival stehen darf?
Aufführungen von Christine Schäfer mit dem Freiburger Barockorchester, András Schiffs Bartòk/Bach-Recital oder Nachwuchsstars wie die aus Moldawien stammende Geigerin Patricia Kopatchinskaja und der finnische Pianist Henri Sigfridson mit Cage bestätigten: Es ist etwas anders geworden in den Klassiktempeln. Das Neue ist nicht länger ausgesperrt, nicht länger nur Sache von Spezialfestivals. Und das Publikum ist mit gewachsen. Gut so.