Nicht wenige Regisseure haben gesagt, dass Mozarts „Die Zauberflöte“ das schwerste Stück überhaupt sei. Wo sind wir und wer sind die Protagonisten: die Frage stellt sich immer wieder neu. Es gehört zum 1791 entstandenen Stück, der „Oper aller Opern“, dass sie nicht beantwortbar ist, dass immer offen bleiben muss, ob es sich um Märchenposse oder Götterritual, um Volksstück oder Mysteriendrama, um Matriarchat gegen Patriarchat, um Absolutismus gegen Aufklärung (mit durchaus zweifelhaften Fortschrittsversammlungen) oder auch um eine Parabel übers Erwachsenwerden handelt.
Nun hat Frank Hilbrich in Hannover zu Recht auch gar nicht erst versucht, eine Antwort zu geben, sondern er hat eine Szenerie entwickelt, die den Zuschauer mit einer Menge Fragen an das Stück und das Leben zurücklässt. Zur Ouvertüre spielt ein (stummes) Kinderorchester auf der Bühne und diese Kinder bevölkern öfter mal die Szene, mischen am Ende vor allem die graue Sarastrowelt auf, die aussieht wie die grauen Zeitdiebe aus Michael Endes Roman „Momo“. Dass Hilbrich den Kindern, zu denen die drei Knaben gehören, dieses Gewicht gibt, darüber hinaus der heilenden Wirkung der Musik eine einzigartige Stellung verschafft, prägt diese Aufführung, die – wie schon viele davor – mit allen Vorurteilen über das ewig rätselhafte Werk aufräumt und erneut mögliche Antworten verweigert. Denn die Ambivalenz ist ja komponiert: wies weitergeht, weiß niemand.
Hilbrich thematisiert das Erwachsenwerden bei Tamino und Pamina, bei Papageno und Papagena. Es ist mehr als brutal, was sie vier dabei erleben müssen. Die Königin der Nacht und Sarastro: Zwei unfähige Erzieher. Die Mutter Paminas ist keine in irgendeiner Weise mächtige Frau, sie trägt ein graues Gouvernantenkleid und einen Knoten im Haar. Im zweiten Teil zeigt die große, sonst auch siegessichere Rache-Arie ihren Wahnsinn. Die Gehirnwäsche bei den Prüfungen durch Sarastro ist nackte Gewalt, Gewalt braucht auch Monostatos, von Sarastro am Ende verstoßen. Sarastro bricht zusammen, aber auch die „Machtübernahme“ durch das Paar bleibt fragwürdig: in braven grauen Internatskostümen mit weißem Kragen stehen Pamina und Tamino da. Tamino bekommt von einem Kind einen Dirigentenstab überreicht.
Thema von Hilbrich ist das Überstehen der Pubertät mit einer ideologischen Zurichtung ohnegleichen, zwei Selbstmordversuche zeigen die Verzweiflung von Pamina und Papageno, der vom prachtvollen Vogelmenschen zu einem ganz normalen Teenager mutiert. Sogar die Wasser- und Feuerprobe werden aus dem symbolischen Märchenreich herausgenommen: die Prüflinge gehen nicht durchs Feuer, sondern bekommen verkohlte Leichen zu sehen. Die Einbindung der drei Knaben in die immer auch anwesende Kindergruppe verhindert ihre Interpretation: welche Instanz sind sie, die mal für Sarastro und mal für die Königin der Nacht eingreifen?
Zeigt sich dies alles realistisch, so arbeitet das Bühnenbild eher mit einer formalen Symbolik: In einem gold ausgeschlagenen Raum steht ein großer Goldturm, der sich öffnet und aus dessen Innerem Szenen sozusagen herausfallen und auf eine andere Wirklichkeit verweisen. Nachdem das Ganze etwas träge anlief, steht am Ende eine sensible und intelligente Regiearbeit, die sich ein paar schwache Buhs gefallen lassen musste. Und die getragen war von einer überzeugenden, wenn auch nicht sensationellen musikalischen Substanz. Der erste Kapellmeister Valtteri Rauhalammi brachte mit dem niedersächsischen Staatsorchester schöne, sehr schnelle Tempi, klare Temporelationen und verzaubernde Orchesterfarben. Vom Sängerensemble muss hier an erster Stelle Athanasia Zöhrer als Pamina genannt werden, die vom aktiven, wirbelnden Kind zur wissenden Frau heranwuchs, mit einem leuchtenden Sopran. Simon Bode als Tamino fehlte es etwas an einem wie auch immer charakteristischen Timbre, Matthias Winckhler als Papageno war in jeder Hinsicht tadellos, auch Ylva Stenberg als Papagena. Überragend auch Dorothea Maria Marx als heruntergekommene Königin der Nacht, und zufriedenstellend Tobias Schabel als Sarastro. Eine Aufführung, die eine Menge interessanter Fragen hinterlässt und genau deswegen sehenswert ist.