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Opernchor Theater Magdeburg. © Nilz Böhme

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Die Karikatur ins Groteske torpediert: Beethovens „Fidelio“ am Opernhaus Magdeburg

Vorspann / Teaser

Ludwig van Beethovens „Fidelio“ steht wie kein anderes Werk des deutschen Musiktheaters für das „Prinzip Hoffnung“ und die positive Utopie der Freiheit. Die italienische Regisseurin Ilaria Lanzino verweigert Heroik und verortet im Opernhaus Magdeburg die Befreiung des Gefangenen Florestan durch seine Frau Leonore in einem Klima bornierter Konsumhörigkeit: Harte Szene in trügerischen Farben und dazu ein ortsspezifisch opulenter Beethoven-Klang von der Magdeburgischen Philharmonie unter GMD Anna Skryleva.

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Ilaria Lanzino interessiert sich nur am Rand für die Befreiungstat einer Frau, die – verkleidet als Mann – ihren Lebenspartner aus der willkürlichen Kerkerhaft und vor der Ermordung durch seinen politischen Rivalen rettet. An der Handlungsführung der von Beethoven in Wien bis 1814 für insgesamt drei Fassungen auf Trab gehaltenen Librettisten Joseph Sonnleithner, Stephan von Breuning und Georg Treitschke ändert sich dadurch wenig. Es geht Lanzino auch nicht um die Zuweisung von Recht und Unrecht in der Gegenüberstellung des Opfers Florestan und des Schurken Pizarro. Eine solche Vergegenwärtigung ignoriert aber den Kern der „Fidelio“-Fabel und macht diesen deshalb gegenstandslos. So verliert die italienische Durchstart-Regisseurin – gewiss gegen bessere Absicht – den substanziellen Bezug zur Musik. Dabei verstehen sich GMD Anna Skryleva und Lanzino beim Parallelausbau der äußeren Spannungskurve und musikalischen Architektur supergut. Erst nach der Pause driften Musik und Szene auseinander. Skryleva glaubt an Beethovens positive Utopie, die Sozio-Pessimistin Lanzino diagnostiziert kollektive Verdrängung in den Wohlstandszonen. Harte Knallfarben auf der Bühne, weiche und doch konturierte Klänge von der exzellenten Magdeburgischen Philharmonie. Die eigentlich in einem spanischen Gefängnishof spielenden und von Beethoven auch mit Ernst durchsetzten Genreszenen erhalten musikalisch eine sensible Spur. So gut wie alle Dialoge und sogar einige Sätze des genial düsteren Melodrams im Kerkerbild sind gestrichen. 

Martin Hickmann baute ein bunt-biederes Eigenheim-Interieur, in das man wie von oben auf Doppelbett und Wohncouch mit PC-Tisch blickt. Die Figuren stellen für ihren Komfort und ihre Illusionen demzufolge skurrile Verrenkungen an, was die Karikatur ins Groteske torpediert. Passanten mit Einkaufstaschen und Augenbinden irren zur vierten von Beethovens Leonore- und Fidelio-Ouvertüren über die Bühne. „Die Welt brennt“ steht auf dem Transparent, das Leonore und Florestan schon da als Wissenschaftler in die Menge tragen. Pizarro, der sehr deutlich und mit fast tenoraler Höhe stark agierende Morten Frank Larsen, ist in den Konsequenzen des beginnenden Klimawandels das weitaus geringere Übel. Statt der Gefangenen dringen verdreckte, gebrandmarkte Flüchtlinge in die smarte Idylle und stören. 

Zum ersten Finale-Schluss „Leb wohl, du warmes Sonnenlicht“ wallen bedrohlich schwefelfarbige Nebel. Tilmann Unger zürnt, schmachtet, träumt als Florestan in einer unterirdischen Müllkammer. Bestechend setzt Unger mit der tückisch gelegenen Partie seine imposante Erfolgsserie nach dem Dessauer Tristan und dem Braunschweiger „Götterdämmerung“-Siegfried fort. Der Retter Don Fernando wird zum edlen Greis mit Blumenkrone und weißen Mantel, den Giorgi Mtchedlishvili nicht balsamisch genug singen kann. „Ihr habt’s verbockt“ steht auf seinem Transparent, mit dem er den Funktionärsfiesling Pizarro und die Partisanin Leonore bedrängt. Beethovens Piano-Mysterium „Oh Gott, welch ein Augenblick“ zieht beiläufig vorbei. Dann folgt zum Jubelschluss „Wer ein holdes Weib errungen“ ein ausgelassen-naives Tanzen. Die angekündigte Auseinandersetzung mit dem „Fidelio“-Krisenpunkt, dass eine Frau ‚nur‘ in Männerkleidern etwas bewirken könne, findet eher beiläufig statt. Für Lanzino ist im Klimawandel-Jahrzehnt wichtiger, dass die Décadents der reichen Länder hinter naiven Themennebenschauplätzen die globale Bedrohung nicht bemerken wollen. Die Ansätze zur Verortung des in seiner Rezeptionsgeschichte immer mehr mit Freiheitsethos überfluteten „Fidelio“ im topaktuellen Umfeld sind richtig. Nur bleiben die Typen im Magdeburger Opernhaus zu blass. Aus dem Slapstick des Beginns und dem analytisch pfeilscharfen Kommentar zum Krisenbewusstsein springen kaum empathische Funken. Vanessa Rusts Kostüme und Knallfarben panzern die Figuren und schirmen sie voneinander ab. Als Marzelline wird Na’ama Shulman zur Knallcharge mit Dauerlächeln und zum brünetten Dummchen im gesteiften Rock. Desgleichen wirkt Adrian Domarecki als Jaquino etwas unterbelichtet. Johannes Stermann als Rocco wirft starke Töne ins Auditorium, fast zu starke für den schwachen Charakter. 

Dafür singt sich Raffaela Lintl als Leonore mit hohem Können und tadelloser Sicherheit auf die nächste Karriereebene. Im Partien-Herzstück, ihrer großen Arie, wird Lintl tatsächlich zum Mittelpunkt der Szene. Stark, aber unhörbar gerät das Drama der lautlosen Kassandra-Rufe, mit denen Florestan und Leonore bei den von Martin Wagner klangschön vorbereiteten Chormassen wenig bis nichts ausrichten. Viel Applaus gab es für eine richtige Sichtweise zum falschen Stück, weil Lanzino trotz musikaffiner Gestaltung den Gehalt der Musik mit Vollgas überholt und erst bei Beethovens Freiheitspathos auf die Bremse tritt.

  • Unser Autor besuchte die Generalprobe am 2. Mai 2024.

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