September 2003: Im UN-Sicherheitsrat verkündet der amerikanische Verteidigungsminister Colin Powell die militärische Intervention im Irak. In vollem Bewusstsein dieser Tat im Hinblick auf die Konsequenzen für die Zivilbevölkerung „passte“ dazu ein optisches Symbol im UN-Gebäude definitiv nicht: Pablo Picassos Bild „Guernica“ markiert einen Aufschrei angesichts des ersten Luftangriffes auf eine Zivilbevölkerung seitens spanischer und deutscher Faschisten im Jahr 1937. In Amerika wurde die riesige Kopie dieses Gemäldes in einem „bilderstürmerischen“ Akt kurzerhand zugehängt aus Anlass der Kriegserklärung gegen den Irak.
Letztlich um diese „Beschädigung“ eines Kunstwerkes wieder zu heilen, hat der Brite Barry Guy eine neue Musik komponiert. Diese ist aber nicht nur ein wütender, bisweilen düsterer Aufschrei, sondern artikuliert auch eine innige Emotionalität, welche Zuversicht und Kraft spendet. Letztlich konnte im Kloster Falkenhagen auch die sprühende Freude aller Beteiligten beim Spielen dieser erstaunlichen Komposition dem Bösen wieder Paroli bieten. Oder, wie Barry Guy selbst sein Anliegen im Begleittext zur Aufführung formuliert: „ ein Musikstück, das die Kraft des menschlichen Geistes zeigt, der Unterdrückung durch Tyrannei zu widerstehen.“
All dies bündelte die deutsche Erstaufführung von „The Blue Shroud“ in einer Kirche mitten im weiten Land Ostwestfalens, im Kloster Falkenhagen. Dahin führten die „Wege durch das Land“. Besagte hoch ambitionierte Festivalreihe beweist, dass man für hochkarätige und auch fordernde Kultur keineswegs immer nur urbane städtische Räume braucht.
Man reist in Ruhe an, streift die Alltagshektik ab, taucht in die Landschaft ein. Um dann gerade durch die etwas abgeschiedene „klösterliche“ Atmosphäre umso empfänglicher für die Botschaften von Musik und Literatur zu werden. „Die Zukunft gehört der Güte“ ist der aktuelle Leitsatz für diese, nunmehr 16. Festivalausgabe.
Erleben wir also den britischen Kontrabassisten und Komponisten Barry Guy, seine kongeniale Partnerin Maya Homburger auf barocker Violine und viele weitere Protagonisten, die zu einem großen Teil aus der schweizerischen Improvisationsmusik-Szene kommen, welche sich ja ausgesprochen „open minded“ gibt! Barry Guy kehrt dem Publikum den Rücken, denn er muss als Leiter und Leader seinen Musikern zugewandt sein. Er soll in den kommenden fast zwei Stunden eine Art Doppelrolle spielen, beackert kraftvoll seinen Tieftöner, zupfend und streichend und immer mit urwüchsiger Kraft und dirigiert zugleich diesen insgesamt 15 köpfigen Klangkörper.
Das Zusammenwirken der „Blue Shroud Band“ ist eine extrem dichte, hellwache und ständig unvorhersehbare Interaktion. So viel atemberaubende Bühnenpräsenz hat die alte Klosterkirche wohl selten gesehen. Schlagzeuger Lucas Niggli agiert im Duo mit Ramon Lopez (letzterer ist sonst ein Teil des Joachim Kühn Trios). Niggli waltet immer als Co-Dirigent – denn zu koordinieren, zu vermitteln, zu verschalten gibt es vieles in diesem ohne Pause durchgespielten, rasch geschnittenen „Hör-Film“. Ein klagendes Trompetenmotiv folgt den rezitierten Worten von Barry Guy, dann stürzen geräuschafte Kakophonien mit Abwärtsglissandi und harten Dissonanzen aus dem schreienden Himmel herab. „Es rast der Stier, das blutverschmierte Haupt erhoben, durchs düstre Land, das hell und stolz einst war. Die Trümmer liegen nach der Schlacht verstreut. Zur Klinge umgeschmiedet ist des Pfluges Schar“ – so beginnt der Text, den die irische Schriftstellerin Kerry Hardy zu diesem Projekt beisteuerte.
Scharf und expressiv, aber auch berührend einfühlsam zeichnet Barry Guy mit dem Blue-Shroud-Ensemble die Konturen und Figuren dieses Textes nach. Immer folgen den aufbrausenden, oft schreienden Eruptionen Momente von tiefer menschlicher Empfindung, ja einer ausgesprochenen Zärtlichkeit gegenüber den Figuren, derer in diesem Panorama gedacht wird. Innige Parts voller Lyrik und Moll-Elegie erwachsen aus Themen, wie sie Barry Guy den Altmeistern Johann Sebastian Bach und Heinrich Ignaz von Biber abgelauscht hat. Solistische Stimmen verschaffen sich in feinnuancierten Bravourparts Gehör. Das erhabene Spiel auf der Barockvioline von Maya Homburger gehört dazu ebenso wie die filigrane Saitenkunst von Ben Dwyer. Es leuchten und klagen die Trompetensoli von Percy Pursglove, der aktuell für Peter Evans eingesprungen ist. Tragendes, oft spirituell aufgeladenes Element ist nicht zuletzt die ausdrucksstarke Altstimme der griechischen Sängerin Savina Yannatou.
Wer das hervorragende Duo-Album „Tales of Enchantment“ von Barry Guy und Maya Homburger kennt, der hört einige Themen in neuen Kontexten – was weitere, im innersten ergreifende Momente generiert. Guy und Homburger haben hier jenes Prinzip perfektioniert, alte Musik und neue freie Klanggeste, streng auskomponiertes und assoziativ improvisiertes geschmeidig und gleichsam logisch in einen Fluss zu bringen. Dies ganze nun in eine großformatige Interaktion zu transformieren und damit auch noch eine Aussage zu transportieren.
„Es ist schon ein immenser Aufwand, alle Musiker zu so einem Termin zusammen zu bringen“ hatte Lucas Niggli vorm Konzert bekundet. Es sollen jetzt noch weitere Aufführungen folgen – aber dafür muss man bis nach Krakau reisen oder das bemerkenswerte Zürcher Unerhört-Festival besuchen. Dies ist ja sozusagen „Heimspiel“ für die meisten der in der „Blue Shroud Band'“ versammelten Musiker. Und dann endlich ist das Material so weit gereift, dass auch die CD-Produktion in Angriff genommen werden kann.
So viel atmosphärische Eindringlichkeit fiel in der Klosterkirche Falkenhagen nicht einfach vom Himmel. Zwei völlig andere Programmpunkte hatten auf die Sternstunde mit der „Blue Shroud Band“ bestens „hingearbeitet“: Burkhard Klaußner lieh seine ausdrucksstarke, so bezwingend in sich ruhende Stimme dem neuen Roman von John Maxwell Coetzee – einer Geschichte von Zuversicht, von Güte und einem sehr menschlichem Zustand von „Angekommen-sein“.
Und das Gesangstrio „Tresonanz“ vereinte ein facettenreiches Repertoire aus vokalen Kostbarkeiten aus Mittelalter, Renaissance und Gegenwart zum leuchtkräftigen Ganzen. So vieles wurde hier miteinander eins – die beiden Tenorstimmen von Markus Zapp und Manuel Warwitz, die so hoch hinauf können und dabei so strahlend aufleuchten sowie der ebenso sensibel artikulierende Bass von Marcus Schmidl. Strenge Vokalpolyphonie aus alter Zeit mit ihren aufregenden Intervallreibungen, meditative Momente bei Morton Feldman, alte geistliche Lieder – all dies ging mit der Aura des Kirchenraumes eine frappierende Symbiose ein.
Brigitte Labs-Ehlert, die künstlerische Leiterin der Festivalreihe hat auf jeden Fall im Zusammenwirken mit dem Land NRW und vielen Sponsoren verdienstvolle kontinuierliche Entwicklungs- und Vermittlungsarbeit geleistet. Lohn der Mühe: Ein hochkarätiges, ambitioniertes Programm ohne Kompromisse findet ein dankbares und kontinuierliches Publikum. So soll es sein!
Auf jeden Fall noch viele weitere Besuche dieser Veranstaltungsreihe, die noch bis Komplettes Programm unter www.wege-durch-das-land.de