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Dreigroschenoper Aix-en-Provence. Jean-Louis Fernandez.

Dreigroschenoper Aix-en-Provence.

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Die Letzten werden die ersten sein … – Eindrücke vom 75. Festival in Aix-en-Provence

Vorspann / Teaser

Der Blick auf die aktuelle Programmfolge erstaunt: es sind die 75. Festspiele in Aix-en-Provence, die gerne Mozart als ihren Schutzheiligen proklamieren und nicht etwa das in Frankreich spürbar intensiver reflektierten Festival in Avignon, mit denen dort alljährlich das Schauspiel gefeiert wird. Aber es stimmt: Mit der „Dreigroschenoper“ von Kurt Weill und Bert Brecht hat Aix-en-Provence im Théâtre de l’Archevêché seinen aktuellen Premierenreigen eröffnet.

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„Dreigroschenoper“ – Thomas Ostermeier

Da der frankophone Avignon-Stammgast und Berliner Schaubühnenchef Thomas Ostermeier inszeniert hat, natürlich mit dem entsprechenden Aplomb im Blick auf die eigene Originalität als französische Variante in Koproduktion mit der ehrwürdigen  Comédie Française

Im Vorfeld und mit Blick auf die aktuellen Unruhen in den großen Städten Frankreichs sprach Ostermeier von der brisanten Aktualität des Stückes. Bei öffentlichen Proben vor Jugendlichen in Marseille hätten die das mit ihren Reaktionen bestätigt. Auch Macheath letztes Wort an die „Polizistenhunde“? „Um weitre Händel nicht zu suchen, bitt ich auch sie, mir zu verzeihn. Man schlage ihnen ihre Fressen mit schweren Eisenhämmern ein.“ Brisant? Wohl wahr.

 

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Obwohl der szenische Rahmen mit ästhetischem Ehrgeiz zelebriert wird, drängt sich die reklamierte Brisanz dem Zuschauer an diesem Abend nicht auf. Ein klassenkämpferischer Choral zum Mitsingen, zu dem das Publikum nach dem übersichtlichen Schlussapplaus bei geschlossen gehaltenen Türen „animiert“ wurde, ändert daran nichts. Die ästhetische Form und die diesem Werk verordnete französische Eloquenz entfernen das Stück deutlich von der Gegenwart, machen es zu einer eher entlegenen historischen Reminiszenz. Magda Willi (Bühne), Florence von Gerkan (Kostüme) und Sébastien Dupouey (Video) liefern die Bühne einer Revue, die mit videobelebtem Hintergrund an suprematistische künstlerische Aufbrüche erinnert und mit den laufenden Leuchtschrift-Bändern a la Jenny Holzer den Brückenschlag in eine reflektierende Gegenwart andeutet. Die berühmten Songs werden an der Rampe vor vier Standmikrophonen gesungen. Dort gibt es auch einen – im doppelten Wortsinn – professionell hingelegten, gleichwohl überdehnten Hochzeitstorte-ins-Gesicht-Slapstick, der nicht enden will. Dazu noch eine Brückenkonstruktion und fahrbare Treppen. Der Galgen für Mackie Messer braucht schließlich eine gewisse Höhe. Das Pferd des reitenden Boten der Königin bleibt im Video. Marie Oppert gibt als Polly die Seeräuber-Jenny im Leuchtrahmen. Christian Hecq verpasst als gestandener, singender Schauspieler seinem Peachum eine solche Bühnenpräsenz, dass Birane Ba als Mackie mit seiner schmächtigen Eleganz verblasst und man seiner Polly per se statt ihm die Führung der Geschäfte zutrauen würde. Maxime Pascal und sein Ensemble Le Balcon bestehen immerhin im Graben mehr auf der detailreich prägnanten Wucht einer kämpferischen Intention, als es der Szene gelingt.

„Così fan tutte“ – Dmitri Tcherniakov

So wie diese „Dreigroschenoper“ an die allzu opernglatte hiesige Mahagonny-Produktion aus dem Vor-Coronajahr 2019 anknüpft und (leider) nicht in den Schatten stellte, so knüpft Dmitri Tcherniakov mit „Così fan tutte“ an eine eigene Inszenierung an. Mit Mozarts 1790 vielleicht am konsequentesten an eine ferne Nachwelt adressiertem Beziehungsexperiment begann 1948 die Festspielgeschichte in Südfrankreich. Tcherniakovs wenn nicht Überschreibung, so doch psychologisierende Neudeutung des Bekannten, ist seiner „Carmen“ nicht unähnlich. Die war 2017 der Höhepunkt des Programms. Er hatte seine Helden nicht ins Stierkampf-, Soldaten- und Schmugglermilieu, sondern in eine Klinik für psychisch gestörte Zeitgenossen verfrachtet. Daran erinnert seine aktuelle Mozart Deutung im Théâtre de l’Archevêché. 

Dass sie vom Publikum spürbar reserviert aufgenommen wurde, lag nicht an einem kurzem mitternächtlichen Regenintermezzo, das die Zuschauer wohl ausgehalten hätten. Aber der bekennend mozartaffine Thomas Hengelbrock war zurecht um die historischen Instrumente der Musiker des fabelhaft spielenden Balthasar Neumann Orchesters besorgt. Es mag daran gelegen haben, dass die Erwartungen, die auf eine Verwirrung der Gefühle junger Leute gerichtet waren und wissen wollten, wie man sich in Sachen Verkleidungshokuspokus aus der Affäre zieht, unterlaufen wurden. 

 

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Tscherniakov steigt in die Geschichte nach dem Strickmuster französischer Filme ein: mehrere Paare treffen sich zu einem Essen und im Laufe des Abends knallt es, so dass das Dessert aus Scherben besteht. Diesmal gibt es sogar Tote. Wenn die vier Gäste des unheimlichen Paares Alfonso und Despina am Ende im wahrsten Sinne des Wortes zu Boden gehen, Despina nicht nur auf Alfonso zielt, sondern auch abdrückt und der rücklings umfällt, dann könnte man dieses Desaster für die bare Münze einer Deutung nehmen, die vom Verkleidungsspiel nur Masken übriglässt und das Ganze in der Nähe einer Selbsttherapie bei einem Wochenende mit besonderem Kick für langjährige Ehepaare verortet. 

Im noblen Ambiente vielleicht eines Chalet in den Bergen wird das mit der atemberaubenden Spannung eines guten Fernseh(kammer)spiels durchexerziert; Designerchick mit frei hängendem Kamin und zwei Schlafzimmern mit riesigen Glastüren (und reichlich genutzten Vorhängen), eine steile Treppe in die Räume der Gastgeber. Die von Elena Zaytseva entsprechenden solide kostümierten Ehepaare begrüßen sich, man beginnt mit dem Essen, verabredet das Spiel und unmerklich nimmt das Verhängnis der Selbstentblößung und -erkenntnis durch einen (bewussten) Partnertausch seinen Lauf.

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Cosi fan tutte Aix-en-Provence. Monika Rittershaus.

Cosi fan tutte Aix-en-Provence.

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Dass es erst bei Despinas Ratschlägen an die beiden Frauen, die Nicole Chevalier zu einem grandiosen Schmink-Kabinetstück macht, einen Szenenapplaus gibt, mag daran liegen, dass die Handlung dicht ihrer eigenen Logik folgt. Aber auch daran, dass Agneta Eichenholz (als Fiordiligi, die mit ihrer Felsen-Arie als taffe Frau mitten im Leben steht, allen die Leviten liest). Auch Claudia Mahnke als Dorabella und ihre Männer, Rainer Trost und (Ferrando) und Russell Braun (Guglielmo) lassen sich dezidiert auf die Darstellung der reifen Eheleute ein und konterkarieren das nicht mit Rampenummern. Hier klingt alles mehr nach Lebenserfahrung als nach stürmischer Liebeslust bzw. entsprechendem -Frust. Die Gewichte des Personaltableaus werden auch dadurch verschoben, dass mit Georg Nigl (großartig, aber eher ein nach Mozart Alfonso) und Nicole Chevalier zwei Sängerdarsteller der charismatischen Extraklasse das Geschehen dominieren. So abgebrüht, aggressiv zynisch in Bezug auf andere und zwischen Gewaltausbrüchen und exzessiver Sehnsucht nach vergangener Leidenschaft im Verhältnis zueinander wie hier, hat man diese beiden jedenfalls noch nie erlebt. Eine sinnliche Nachdenkherausforderung bleibt der Abend allemal, auch wenn man nicht auf alle Fragen eine Antwort mitnimmt.

„Wozzeck“ – Simon McBurney

Ein weiterer Festspielrückkehrer ist Simon McBurney. Er glänzt szenisch mit Alban Bergs Moderne-Klassiker „Wozzeck“ und, dank Simon Rattles und seinem London Symphony Orchestra, auch musikalisch im Graben des Grand Théâtre de Provence. Die Inszenierung schafft mit wenig Mitteln den großen Effekt. Wenn am Ende zur fast versöhnlich apotheotischen Schlussmusik der grandios den Titelhelden verkörpernde Christian Gerhaher langsam im Bühnenboden versinkt und die Hände nach seinem Sohn ausstreckt, ist das ein ungemein anrührendes Bild. Wenn er untergegangen ist, dann bewegt sich die Rückwand der von drei Seiten begrenzten Bühne nach vorn, denn das Gefängnis des Lebens und Leidens ist nunmehr gleichsam implodiert. Die letzten kindlichen Hop-hop Worte kommen nicht von dem Jungen (den hier ein Mädchen verkörpert), sondern von einer Junior-Ausgabe des Hauptmanns, der seinen Altersgenossen genauso piesackt (bzw. mit dem Finger pickst) wie vordem der skurril überzeichnete Hauptmann Wozzeck. Das Kind bleibt vor der jetzt wieder sichtbaren Plattenbaufassade allein und verlassen zurück.

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Bis dahin ist der dunkle Bühnenkasten von Miriam Buether Gefängnis und Tretmühle in einem. Konzentrische Kreise rotieren unabhängig voneinander. Die Wände sind Projektionsfläche für Nahaufnahmen oder Plattenbau-Fassade. Als Andeutung der Bleibe Maries (irgendwo in diesen Blocks) genügt eine hereingeschobene Tür. Zum Schlafsaal oder Wirtshaus wird die Bühne durch die Massen, die sie bevölkern. Die Schauplätze verwandeln sich wie von Zauberhand ineinander. Büchners Scharfblick in den Abgrund Mensch und Bergs beklemmend packende Musik werden dank McBurneys präziser, durchweg musikalisch legitimierter Personenregie zu einer idealen Voraussetzung, damit die allesamt grandiosen Protagonisten vokal und darstellerisch glänzen können. Das gilt allen voran natürlich für Christian Gerhaher. Dessen Wozzeck ist nicht nur beispielhaft wortverständlich und mit kultivierter Kraft und Intelligenz gesungen, sondern auch mit einem genau dosierten Maß an Würde und Selbstbehauptungswillen gespielt. Sein Scheitern an der Welt wird dadurch umso tragischer. Auch um Gerhaher herum waltet vokaler Luxus und darstellerisches Charisma. Das gilt für Robert Lewis als Andres, ebenso wir für Peter Hoare als Hauptmann, Brindley Sherratt als Doktor und vor allem den machohaft aufdrehenden Thomas Blondelle als Tambourmajor. Die fabelhafte Malin Byström als Marie und die dunkel tönende Héloïse Mas als Margret liefern das weibliche Gegengewicht zu den Männerstimmen.

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Hier war der Jubel so enthusiastisch und ungeteilt wie bei der Uraufführung von George Benjamins Oper. So schlagen für das Festival in Aix-en-Provence zwei ganz und gar gelungene Produktionen und eine herausfordernde Referenz an den heimlichen musikalischen Hausgott Mozart zu Buche.

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