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Die Schrecksekunde nach dem Aufprall

Untertitel
Elliott Carters erste Oper „What next?“ an der Staatsoper Berlin uraufgeführt
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Ohne den Geburtshelfer Daniel Barenboim wäre es zu dieser Uraufführung nicht gekommen. Immer wieder bohrte er nach bei Elliott Carter, dem wichtigsten zeitgenössischen Komponisten der USA, ob er sich nicht auch auf dem Gebiet der komischen Oper versuchen wolle. Carter wehrte ab: er sei zu alt für solche Experimente (schließlich hatte er noch nie eine Oper geschrieben). Außerdem seien bei seinem komplexen Stil die Aufführungschancen gering. Um das Projekt ganz zu Fall zu bringen, forderte der Komponist zudem ein Honorar von einer Million Dollar. Aber Barenboim ließ sich nicht entmutigen. Er sagte nicht nur das geforderte Honorar zu, sondern auch die Uraufführung an der Staatsoper Unter den Linden. Carter gab sich geschlagen – und komponierte. Nach einem maßgeschneiderten Libretto des Musikschriftstellers und -kritikers Paul Griffith entstand so der Einakter „What next?“ Trotz grotesker Momente kann von einer komischen Oper nicht die Rede sein. Zur Ausgangsinspiration, dem Tati-Film „Le trafic“, kamen immer mehr ernste Momente hinzu. Carter erinnerte sich beispielsweise an einen Verkehrsunfall in Rom, der ihn wegen des sorglosen Umgangs mit den Verletzten schockiert hatte. Sein Schock verwandelte sich in den der Unfallopfer. Die 45-minütige Oper handelt von der Schrecksekunde nach dem Aufprall, in der die Betroffenen nicht mehr wissen, wer und wo sie sind. Erst allmählich erfährt der Zuschauer wie in einem musikalischen Memory-Spiel aus verwirrten Monologen, dass es sich hier um eine Familie handelt, die gerade zu einer Hochzeit fahren wollte. Es ist eine Endsituation wie bei Beckett, wobei Sprachfindung, Entfremdung und Absurdität sich mischen. Auch die 1993 in Kassel uraufgeführte „Rathenau“-Oper von Volker Elis Pilgrim und George Dreyfus hatte wenige Schocksekunden – den Moment nach dem Attentat auf den Reichsaußenminister – wie in Zeitlupe entfaltet. Die surreale Empfindung der gefrorenen Zeit hatte sich dort tatsächlich eingestellt. Sie fehlte in Berlin sowohl der Inszenierung Nicolas Briegers wie auch der Musik Elliott Carters. Bereits nach kurzer Erstarrung, begleitet von mildem Schlagzeuggewitter (nach eigenem Bekenntnis wurde der Komponist zu dieser Perkussionsfuge durch den letzten Akt der „Schweigsamen Frau“ angeregt) agierten die fünf Unfallopfer wieder in normalem Tempo. Der Schock war allenfalls ihrer poetisch-fremdartigen Wortwahl anzumerken. Ansonsten bewährte sich Carters schon immer auch literarisch beeinflusste Kunst der Instrumentalcharaktere, die er seit Jahren an die Stelle motivischer Arbeit setzt. So wird die Sängerin Rose (Simone Nold) durch Klaviersoli charakterisiert, ihr Bräutigam, der clownesk und wie ein Rockstar agierende Harry (Hanno Müller-Brachmann), durch Holzbläserfiguren, die Mutter (Lynne Dawson) durch die Harfe. Nur einmal, als die Protagonisten auf der Suche nach Hilfe die Bühne verlassen, verströmt das Orchester mit Halteklängen surreale Zeitlosigkeit; dazu klappen die Wrackteile (Bühnenbild: Gisbert Jäkel) langsam nach oben. Als danach die Familie zurückkehrt, profiliert sich neben der Mutter vor allem die Sängerin Rose mit einer riesigen Arie sowie die Astronomin Stella (mit ausgezeichneter Kantabilität: Hilary Summers). Scheinbar nach einer Ewigkeit treffen schließlich die Rettungstrupps ein, die die Opfer in Sicherheit bringen – in den Orchestergraben. Mit diesem Einakter der Zeit- und Gedächtnislosigkeit, der Unsicherheit über Vergangenheit und Zukunft (die Schlussfrage „What next?“ äußert der Jüngste, the Kid) hat Elliott Carter am Ausgang des Jahrtausends eine Bilanz gezogen. Selbst wenn Schockhaftes und eigentlich Avantgardistisches fehlt, ist an der Partitur die meisterhafte Form- und Zeitgestaltung sowie die auch melodisch eingängige Kunst des inneren Monologs zu rühmen. Der zunächst nur freundliche Beifall des Premierenpublikums steigerte sich zu Ovationen, als der 90-jährige Komponist die Bühne betrat. Carter, ohnehin eine Figur der Musikgeschichte, leistete damit seinen Beitrag zur Operngeschichte. Wegen der Qualitäten der auch publikumswirksamen Musik wie des kongenialen Librettos dürfte „What next?“ einen dauerhafteren Platz auf der Opernbühne einnehmen als Schönbergs problematischer Einakter „Von heute auf morgen“, der den Abend eingeleitet hatte.

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