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„The unanswered Question“ nennt der Schweizer Regisseur Christoph Marthaler sein neues Musik-Theater-Stück, das am Theater Basel uraufgeführt wurde. Der Titel verweist auf die gleichnamige Komposition von Charles Ives, die in Marthalers „Projekt“ eine Art Mittelpunktsfunktion einnimmt: äußerlich als Trennung zweier Programmteile, in der inneren Dramaturgie als geheimes Leitmotiv. Auf die unbeantworteten Fragen gibt Marthaler immerhin eine klare Antwort: nur wenn wir Kultur als existentielle Dimension (wieder) zu begreifen lernen, kann sie uns helfen, unserer Existenz überhaupt einen Sinn zu verleihen.
Christoph Marthaler zeichnet eine stille, beharrliche Art des Protestes aus. Schon daß er nachdenkt, bevor er sich an die Arbeit macht, darf als Protest gegen die fortschreitende Gedankenlosigkeit genommen werden. Dann seine Langsamkeit, die oft kaum merklich fortschreitende Bewegung in seinen Inszenierungen: ein Protest gegen das Hetzen, das wir uns alle angewöhnt haben, das wir auf dem Theater als Fortsetzung erwarten: als knallige Action. Dann der Protest gegen träge Gewohnheiten, überkommene Klischeebilder, falsche Traditionshaltungen. Sein Frankfurter „Fidelio“, scheinbar eine Werkzertrümmerung, führte in Wahrheit zum Kern des Stücks, der so eindeutig, wie es immer scheinen mag, nicht definiert ist. Seine „Pelléas“-Interpretation, ebenfalls in Frankfurt (das Duo Marthaler - Sylvain Cambreling erwies sich als inspirierende Idealpartnerschaft) offenbarte im Kunstmärchen die psychischen Dimensionen des Fin de siècle: Da standen plötzlich unsere Großväter auf der Bühne, überfallen von umheimlichen Ahnungen, daß es mit der bourgeoisen Pracht und Herrlichkeit zu Ende geht, weil die eigene Kraft erschöpft ist. Das Werk rückte auf einmal sehr nah an unsere Psyche heran, hundert Jahre später, wieder am Ende eines Jahrhunderts. Ist die Kraft wieder erschöpft? Die Zeichen mehren sich.
Wer Christoph Marthaler persönlich etwas näher kennt, schätzt seinen stillen, verschmitzten, auch blitzschnell entlarvenden Humor. Humor kann erst entstehen, wenn jemand Leben und Leute genau beobachtet. Marthaler ist ein wunderbarer Beobachter. Anders wären die vielen, oft kaum merkbaren Details und Gesten in seinen Schauspiel- und Operninszenierungen nicht denkbar. Als Schweizer suchte Marthaler nach einem Ort, an dem existentielle Beobachtung wie weiland im alten Wiener Kaffeehaus möglich ist. Er entdeckte diesen Ort für sich in schweizerischen Bahnhofsbuffetts: in der Verschlissenheit des Mobiliars sitzen vornehmlich Männer, jeder für sich an einem Tisch, schweigend, einsam. Gelegentlich fällt ein Wort, und viel später vernimmt man aus einer entfernten Ecke eine Antwort darauf. Marthaler, der darüber höchst anschaulich zu erzählen weiß, spürt eine große Spannung in der scheinbar bewegungslosen Ruhe, ein inneres Vibrieren, eine psychische Dynamik, die dann umso plötzlicher in jähen Gesten nach außen drängt. In Marthalers Arbeiten für das Theater und die Oper erfährt man viel von diesen Innenspannungen. Sie bilden einen oft seltsamen Kontrast zu unserer Scheinwirklichkeit, dem Lärm, den Bilderfluten, die uns tagtäglich überfallen, und Marthaler sieht auch den Hauptübeltäter für die fatale Entwicklung: die Medienindustrie, deren Verführungskünsten der „gemeine“ Mensch, und nicht nur er, allzu bereitwillig erliegt. Was dabei aus der Kunst, der Musik, dem Theater wird, schert die Verwerter einen Kehricht. Daß Kunst auch einen hohen Anspruch an ihre Rezipienten stellt, gerät immer weiter aus dem Blick.
Der Abend, den sich Marthaler, seine Bühnenbildnerin Anna Viebrock und der Dirigent Jürg Henneberger für das Theater Basel ausgedacht haben, übersetzt das Thema ins Anschauliche, Sinnliche, Schlagkräftige. Als guter Schweizer ist Marthaler ein rigoroser Moralist. Doch er predigt nicht „bierernst“, sondern wählt die Waffen der Satire, der Parodie, der gemeinen Verulkung, wobei er sich nicht scheut, seine Gegner mit deren eigenen Waffen zu schlagen.
Marthaler verzichtet im Zweifel auf keinen Kalauer, vorausgesetzt, daß dieser die Wucht des Holzhammers besitzt. Anna Viebrocks „Raum“ mag wohl dem Idealbild des schäbigen schweizerischen Bahnhofsbuffetts entsprechen. An primitiven Tischen sitzen im Halbkreis die Sänger und Spieler, die in den ersten zwei Stunden Marthalers Verbündete sind im Kampf gegen die Medienverblödung. Oper, Operette, Konzert degenerieren zu „event“ und „Classic radio“, untermalen verhackstückt Fernsehshow und Quizsendung, Produktwerbung und plane Unterhaltung. Marthaler und Henneberg greifen mit entfesselter Phantasie hinein ins volle „Musikleben“, vom „Vogelhändler“ bis zum „Lohengrin“, von Mozarts „Don Giovanni“ bis zu „O sole mio“ und den „Drei Tenören“, die hier verhohnepiepelnd mit drei Bässen röhren.
Zwei Moderatoren, der herrlich überdrehte Graham Valentine auf englisch, der hinreißend eitel-dämliche Ueli Jäggi deutschsprachig, erledigen souverän die ganze Sippschaft ihrer realen Konkurrenz mit deren unerträglichem Dauerplappern und Witzeln. Marthalers Raffinesse besteht darin, daß er gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen agiert. Die „Künstler“, die diesen Betrieb gegen viel Gage bedienen, sind um keinen Deut besser oder anders als die Konsumenten. Und so schauen sie auch aus und benehmen sich so: armselig. Ihre „Kunst“ ist zur Wegwerfware verkommen, und ebenso verkommen sind sie selbst. Marthaler, der auch hier, wie gewohnt, alles „langsam“ angeht, bedächtig und hinterhältig im Entlarven zugleich, steigert Tempo und Rhythmus des ersten Teils schließlich zu einem furiosen Finale, in dem Musik und Gesang nurmehr im akustischen Zerhacker aufklingen, begleitet und übertönt vom hirnrissigen Moderatorengeschwätz. Mit plötzlicher Stille und dem Erklingen von Charles Ives Orchesterstück „The unanswered Question“ endet das grimmig-satirische Entree.
Ives’ 1906 entstandene Komposition „funktioniert“ gleichsam als Puffer zwischen den beiden Teilen: Wie von fern stellen die Trompetenklänge die „Fragen“, die allein kurze Bläserturbulenzen evozieren. Ives’ Stück zwingt immer wieder zu Schweigen und Hinhören. Das Sinfonieorchester Basel unter Jürg Henneberger realisiert es mit fein ausbalancierter Klanglichkeit. Johannes Harneits Streichersätze (nach den „Douze Petits Chorals“ von Satie) und Bruckners „Abendzauber“ leiteten über zum Höhepunkt und Abschluß des Abends: György Kurtágs 1981 vom Ensemble Intercontemporain uraufgeführter Zyklus „Die Botschaften des verstorbenen Fräulein R.V. Trousssova“ mögen Marthalers Ästhetik einer „wahrhaftigen Musik“ am nächsten kommen.
Die einundzwanzig kurzen, meist nur einsätzigen Gedichte der russischen Dichterin Rimma Dalos spiegeln in einer fiktiven Frauengestalt, die als Alter ego der Dichterin gelten darf, differenzierte Gefühlslagen einer gefährdeten Psyche. Kurtágs Komposition für dreißig in drei Gruppen agierende Instrumentalisten fängt die „innere Musik“ der auf russisch verfaßten Gedichte sensibel auf: eine Musik, die in den Menschen, in seine Seele und deren Gefährdungen bohrend und schmerzlich hineinhorcht. Marthaler führt die Sängerin Rosemary Hardy als geschäftigte Serviererin des Etablissements ein und gewinnt dann für die letzten der Liedbotschaften mit der Sängerin eine wunderbare, ergreifende, schmerzende Ruhe.
Es ist diesselbe Verhaltenheit und Stille, mit der in Marthalers Salzburger Inszenierung von Schönbergs „Pierrot lunaire“ im Nachspiel die melancholischen Clowns aus unseren Tagen der Musik von Messiaens „Quator pour la fin du temps“ lauschen: Regungslos, das Ohr nach innen gerichtet. Dahin muß der Weg führen. Marthalers „Unanswered Question“ zwingt uns, einige Fragen an uns selbst zu stellen und zu beantworten. Daß solche Produktionen an einem Theater stattfinden können, beweist, wie wichtig engagierte Theaterarbeit gerade heute ist. Seit dem Amtsantritt Michael Schindhelms befindet sich das Basler Theater auf diesem richtigen Weg. Das Marthaler-Stück, Herbert Wernickes aufregende Inszenierung von Kagels Liederoper „Aus Deutschland“, ebenfalls von Wernicke die faszinierende szenische Realisierung von Schuberts „Winterreise“ – das sind Aufführungen, die von uns und unserer Gegenwart handeln. Basel ist wieder zum einem wichtigen Theaterort geworden.
Gerhard Rohde