Mit Bravos und Buhs ist Tobias Kratzers Inszenierung des „Tannhäuser“ bei den Bayreuther Festspielen aufgenommen worden. Unser Rezensent Peter P. Pachl sah eine unterhaltsame Aufführung, bei der die verschiedenen Erzählebenen nicht immer zueinander finden wollten, hörte gute Sängerleistungen und ein wenig überzeugendes Dirigat Valery Gergievs.
Nie zuvor wurde bei einer „Tannhäuser“-Aufführung so viel gelacht wie bei der jüngsten Bayreuther Neuinszenierung der Dresdener Fassung – und dies war durchaus die Absicht von Regisseur Tobias Kratzer, der die Opernhandlung mit einer Reihe von Gags garniert hat. Parallel laufen eine assoziative, eine illustrative und eine psychologisierende Erzählweise, eine aufführungsgeschichtliche Rezeptionsebene und die Öffnung zwischen Drinnen und Draußen. Manch Neues also, was sich jedoch bei der Premiere noch nicht zu einer echten Einheit formen wollte. Und auch musikalisch befindet sich diese Produktion großenteils noch auf dem Pilgerweg.
In einer originellen Mischung von Videoeinspielungen und Live-Kamera-Projektionen (Manuel Braun) erlebt der Zuschauer Tannhäuser mit der jungen, flippigen Venus in einem silbernen Wohnmobil auf der Fahrt von der Wartburg durch den Thüringer Wald. Mit zur Partie gehören zwei weitere Personen, die Schlöndorffs „Blechtrommel“-Verfilmung des Grass-Romans entlehnte Figur des zwergwüchsigen Oskar Matzerath mit seiner Blechtrommel und der in schillernden Travestie-Kostümen mitreisende, die Gesänge „Naht euch dem Strande!“ aus einem Recorder zuspielende, dunkelhäutige Le Gateau Chocolat. Die Vier stehlen an einer Raststätte Benzin und Proviant, fahren dann einen Polizisten tot und machen Halt bei einem verlassenen Frau Holle-Rasthof.
Tannhäuser ist ein grell geschminkter Clown mit orangefarbener Perücke und buntem Clownsmantel. Der begegnet dann anstelle eines Hirtenknaben einer jungen Dame auf dem Fahrrad (Katharina Konradi), die ihn zu einer Alternativ-Wartburg begleitet, dem Bayreuther Festspielhaus. In Rainer Sellmaiers Ausstattung sind als Pilgerchor sich mit ihren Programmheften Luft zufächelnde Bayreuthbesucher beiderlei Geschlechts zu erleben. Solisten in historisierenden „Tannhäuser“-Kostümen aus dem Festspielhaus kommen hinzu, sie legen ihre Kostümteile ab und tragen die obligatorischen Hausausweise um den Hals. Auch Elisabeth tritt bereits auf und ohrfeigt den Clown – da gibt es offenbar eine Vorgeschichte zwischen den Beiden. Ende des ersten Aufzugs.
In der Pause geht es live weiter: an und auf einem Tümpel an der Auffahrt zum Festspielhaus. Oskar trommelt im Schlauchboot und verkündet live Aufrufe Richard Wagners aus der Revolutionszeit, Venus pinselt diese auf ein Transparent und Le Gateau Chocolat singt diverse bekannte Popnummern und Elisabeths Arie „Dich teure Halle grüß ich wieder“ – in der Basslage.
Der zweite Akt führt dann, wie man an den Video-Projektionen sieht, auf die Bühne des Festspielhauses. Hier ist eine eher konventionelle Bühnenlösung mit Mittelalter-Bezug, aber leuchtendem Darbietungsshowsteg für den Wartburgsaal aufgebaut. Eine Statistin begleitet die Teilnehmer des Sängerkriegs auf einer Harfe. Für den Einzug der Gäste schließt sich der Blick auf die Bühne. Stattdessen wird per Video erzählt, wie Venus, Oskar und Le Gateau Chocolat mit einer Leiter den Balkon des Königbaus am Festspielhaus erklimmen und dort das Transparent anbringen. Kurz darauf haben Sie auch die Bühne erreicht. Der Inspizient unterrichtet Festspielleiterin Katharina Wagner telefonisch über den Vorfall, und die ruft die Bayreuther Polizei zu Hilfe, welche dann die Bühne stürmt und Tannhäuser nach dem Ausruf „Nach Rom!“ abführt. Le Gateu Chocolat breitet eine Regenbogenfahne über die Harfe.
Durch die schwarz-weißen Videoprojektionen wird deutlich, dass die Sänger jenseits ihrer Rollen eine den Konstellationen von Wagners Handlung vergleichbare Privatsituation durchleben. Tannhäuser schäkert mit den Chor-Damen, Wolfram leidet sichtlich unter Elisabeths Hinwendung zu Tannhäuser und verbirgt die Spuren von Elisabeths Selbstmordversuchen – Schnittwunden an ihren Armen – unter deren Kostüm.
In der Pause erblicken die Besucher die immer noch am Portal des Festspielhauses lehnende Leiter und das Transparent mit der Aufschrift „Frei im Wollen!/Frei im Thun!“ Frei im Genießen!/R.W.“ Die bei der Auffahrt der Politikerprominenz vor dem Festspielhaus auf dem Boden liegenden Menschen waren allerdings nicht Teil der Inszenierung, sondern eine Demo von Umweltschutz-Aktivisten.
Im dritten Akt bewegt sich Elisabeth durchaus heimisch in Venus’ offenem Wohnmobil auf einem Schrottablageplatz., Oskar kocht auf einem Propanherd in seiner Blechtrommel einen Brei, an dem auch Elisabeth mitisst. Der Pilgerchor sind nun eine Völkerwanderung von Obdachlosen, die als „Heil“ alles mitnehmen, was sie finden können, auch Oskars Kochherd. Wolfram schlüpft in das Kostüm von Tannhäuser und setzt sich dessen Perücke auf, so dass Elisabeth bereit ist, ihn mit leidenschaftlichen Küssen als Ersatzmann zu akzeptieren. Vor seinem Lied an den Abendstern koitiert er – als vermeintlicher Tannhäuser – mir ihr im Wohnmobil. Nur Le Gateau Chocolat gehört nicht mehr zur Gruppe, er hat zwischenzeitlich Karriere gemacht, was ein riesiges Transparent mit einer Hochpreisgolduhr und seinem Namenszug werbend verkündet.
Tannhäuser kommt mit Plastikbeuteln: in einem hat er den Klavierauszug von Richard Wagners „Tannhäuser“. Wolfram ist bemüht, diesen heranzuziehen, doch Tannhäuser führt ihn ad Absurdum. Er zitiert den Bannspruch des Papstes aus den Noten, die er anschließend in Stücke reißt. Venus’ optischer Aufforderung, mit ihm gemeinsam seine, die Richard Wagnerschen Revolutionsplakate, erneut unters Volk zu bringen, widersteht er jedoch. Eines dieser Plakate hat Oskar ohnehin schon als Klopapier-Ersatz genutzt. Tannhäuser findet die suizide, blutüberströmte Elisabeth im Wohnmobil – und bleibt am Leben, während der Schlusschor „der Gnade Heil“ aus dem Off verkündet.
Erscheint Tannhäusers Wohnmobil als eine Hommage an das von Mime in Castorfs „Ring“-Inszenierung, so wird die vorangegangene, wenig glückliche „Tannhäuser“-Inszenierung von Sebastian Baumgarten im Spiel kritisch rezipiert: auch in dieser, in einer Bio-Anlage angesiedelten Deutung, war ja zwischen den Akten (allerdings auf der Bühne nicht im Freien) weitergespielt worden. Nun fährt Tannhäuser, von Venus chauffiert, an einer Biogas-Anlage vorbei, deren Informationstafel gerade überklebt wird mit der Aufschrift „mangels Nachfrage geschlossen“. Das löste am Premierenabend helle Lacher aus. Am Ende jedoch begann ein heftiger Kampf von Buh- und Bravorufen.
Wenig Einvernehmen hatte offenbar im Vorfeld mit dem Dirigenten Valery Gergiev geherrscht, der sein legendäres Zu-spät-Kommen auch bei Bayreuther Proben praktiziert haben soll. In der Premiere kehrte Gergiev in der Ouvertüre eigene Momente deutlich und ungewohnt hervor, aber im Verlauf des Abends waren Bühne und Graben oft nicht im Einklang. Erfreulich, dass die Dresdner Fassung in diesem Sommer ohne Retuschen gespielt wird und dass die sonst oft gestrichenen Passagen am Ende des zweiten Aktes nun erklingen, und das wohl disponiert ausmusiziert.
Gesungen wurde gut und in den Ensembles trefflich gemischt mit dem von Eberhard Friedrich einstudierten, bravourösen Festspielchor, mit seinen zahlreichen Facetten und vokaler Klangpracht. Dagegen bot die solistische Wartburggesellschaft – mit Stephen Milling (Landgraf Hermann), Daniel Behle (Walther von der Vogelweide), Kay Stiefermann (Biterolf), Jorge Rodriguez-Norton (Heinrich der Schreiber) und Wilhelm Schwinghammer (Reinmar von Zweter) mehr Hausmanns- als Festspielkost.
Lise Davidsen als Elisabeth verfügt über schöne Piani und einen fließenden, dramatischen Duktus, und Markus Eiche ist ein viriler, verschlagen draufgängerischer Wolfram von Eschenbach. Nach einem Bühnenunfall von Ekaterina Gubanova als Venus ist Elena Zhidkova relativ kurzfristig eingesprungen und hat sich faszinierend in diese Aufgabe geworfen, stimmlich und darstellerisch virtuos und auch noch beim Applaus mit gereckter Revolutionsfaust. Diese Venus mischt sich, erkennbar verkleidet, unter die Wartburggesellschaft und singt dort auch die Alt-Partie des vierten Edelknaben. Als solcher benimmt sie sich subversiv und gähnt lauthals angesichts von Wolframs konventioneller Sicht auf die Liebe.
Stephen Gould als Tannhäuser ist eine Wucht, insbesondere da er auch die Rom-Erzählung in der Aufführung mit vielen Piani und Farben sehr individuell und obendrein völlig anders gestaltet als am Vorabend beim Festakt-Gedenkkonzert für Wolfgang Wagner. Gould verkörpert gleichermaßen den Revolutionär Wagner wie den anerkannten Altmeister.
Dennoch fand im dritten Aufzug die erwartete Zusammenführung der Erzählstränge nicht statt, insbesondere die individualisierte Ebene der Sängerdarsteller jenseits der Haupthandlung – so dass sich ein noch unvollständiger Gesamteindruck einstellte. Die „Werkstatt Bayreuth“ ist gefragt, dies in den Folgejahren zu verbessern.
Im nächsten Jahr wird Axel Kober die musikalische Leitung übernehmen. Der Dramaturg der „Tannhäuser“-Produktion, Konrad Kuhn, wird auch für die Dramaturgie der Neuinszenierung des „Ring“ im kommenden Jahr verantwortlich zeichnen.
Am Ende viel Beifall für die Sängerdarsteller, auch für die Darsteller der beiden hinzuerfundenen Figuren, wohingegen das Regieteam und den Dirigenten das Wechselbad der Meinungen von Pro und Contra entgegenschwappte.
Die nächsten Aufführungen: 28. 7., 13., 17. 21. und 25. August 2019.
Nachtrag:
«Elende Schande» - Travestiekünstler kritisiert Bayreuther Publikum
Bayreuth (dpa) - Einen Tag nach der geglückten «Tannhäuser»-Premiere bei den Bayreuther Festspielen geht der schwarze Travestiekünstler «Le Gateau Chocolat» mit dem Publikum ins Gericht. «Dass ich der EINZIGE Charakter war; Le Gateau Chocolat als Le Gateau Chocolat (keine Sprech- oder Singrolle), der auf dieser Bühne ausgebuht wurde, sagt viel darüber aus, wer ihr (immer noch) seid», schrieb er am Freitag auf Englisch auf Twitter und Facebook. Dem Regie-Team sei es wichtig gewesen, die «queere Identität» des Künstlers zu bewahren und zu zeigen. Es sei eine Identität, die «offensichtlich vielen von Euch fremd ist».
Er erinnerte in seinem Post an Grace Bumbry, die «schwarze Venus». Die schwarze Opernsängerin stand 1961 in Bayreuth auf der Bühne. «Ich stand gestern nacht auf ihren Schultern», schrieb der Künstler auf Facebook. «Um stolz das weiterzutragen, was wirklich keine Provokation sein sollte.» Er richtete seinen Post an das «liebe Bayreuth» und fragte zum Schluss: «Die Frage ist also, «Pilger», was genau buht Ihr da aus? Welch elende Schande.»
«Le Gateau Chocolat» ist der heimliche Star der Neuproduktion von Regisseur Tobias Kratzer. Er bildet darin als Mitstreiter der Venus den freiheitsbetonten Gegenpart zur strengen Hochkultur und tritt in der Pause mit einer Gesangseinlage im Park des Festspielhauses auf. Nach der Premiere wurde er von weiten Teilen des Publikums gefeiert, es gab aber auch vereinzelte Buhs. Auch das Regieteam und vor allem Dirigent Waleri Gergijew mussten Unmutsbekundungen einstecken. Alle übrigen Darsteller wurden gefeiert.