Was sagt man zum Abschied? John Neumeier, 50 Jahre lang Ballettdirektor des Hamburg Ballett, bedient sich uralter Worte (und einer ebensolchen Sehnsucht) der Menschheit. Pars pro toto nennt Neumeier seine vorläufig letzte Hamburger Choreographie „Dona nobis pacem“ und gibt ihr den Untertitel „Choreografische Episoden, inspiriert von Johann Sebastian Bachs Messe in h-Moll“.
Allsonntäglich wird in jeder katholischen Gemeinde die Messe nach einem streng festgelegten Ritual gefeiert. Fünf zeitlos gültige Textblöcke (Kyrie – Gloria – Credo – Sanctus – Agnus Dei) kehren dort jeden Sonntag in identischer Form wieder. Alle anderen Texte wechseln von Sonntag zu Sonntag und machen den speziellen Charakter des jeweiligen Sonntags aus. Von dieser formalen Gewißheit hinter verschlossenen Kirchentüren können sich die Gottesdienstbesucher einlullen oder tragen lassen und auf den altehrwürdigen Rhythmus von Klage und Lob, Gebet und Zusage, Bekenntnis und Verheißung, Hören und selbst Sprechen, Angesprochensein und Antworten vertrauen.
Da läuft einer in Panik über die Bühne – lange bevor die Türen geschlossen sind und das gesamte Publikum eingelassen ist. Der Dirigent ist auch noch nicht da. Unruhe entsteht – das Leben bricht herein. Mitten durch unsere heile Welt läuft ein Soldat (Louis Musin), gehetzt, getrieben, gejagt, fertig mit dem Leben. Er flieht von rechts kommend einmal über die Bühne und bleibt dann links regungslos liegen. Erst dann erscheint der Dirigent unter verunsichertem Applaus des Publikums. Irgendwie ist alles ein wenig anders, ein wenig verschoben – reales Leben halt.
John Neumeier betont, dass es in seiner Choreografie zu Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe keinerlei Zusammenhang zum Ukraine-Krieg gebe und sein Ballett „keine Antwort auf politische Ereignisse“ ist. Er fährt fort: „Ich gab dem Ballett den Titel des Schlusschors (‚Dona nobis pacem‘, Gib uns Frieden) lange vor dem 24. Februar 2022, denn dieser Titel drückt aus, was sich als roter Faden durch alle meine Werke zieht und was seit Urzeiten zu den stärksten Sehnsüchten der Menschheit zählt. Unglücklicherweise hat der Titel seit Beginn des furchtbaren Krieges in der Ukraine eine unmittelbare Relevanz bekommen.“
Da läuft einer in Panik über die Bühne – und die gesamte Erwartungshaltung ist zerstört. Sicher, man hätte damit rechnen können. Denn ohne Krieg macht die Bitte nach Frieden wenig Sinn. Aber Krieg – so plötzlich und unvermutet? Auch wenn der Untertitel „Choreografische Episoden“ dem Zuschauer signalisieren soll, dass es keinen strengen Erzählfaden gibt, so ist das Thema „Krieg“ doch der alles zusammenwebende rote Faden. Auch die Figur des „ER“ (Aleix Martínez) bindet die Szenen auf der Bühne zusammen. „ER“ ist vielleicht der Stellvertreter für mich und dich, für uns, ein Ausgestoßener und Heimatloser, der einen Koffer voller Fotografien von Menschen mit sich herumträgt – Erinnerungen an andere Zeiten.
Für Neumeier ist es aber immer wieder das Gebet, das auch durch alle diese Fäden durchscheint. „Mich hat der Gedanke angeregt, auf welch unterschiedliche Arten Gebete gesprochen werden können“, sagt Neumeier. Und: „Manchmal entsteht ein echtes spirituelles Erlebnis, manchmal gibt es für das Gebet eine starke Motivation und manchmal spricht man eine Gebetsformel, obwohl man abgelenkt ist. Meine choreografischen Bilder bewegen sich in diesem gedanklichen Raum.“ Die Hände gefaltet oder flehend gen Himmel gestreckt, knien, sich Gott zuwenden – das sind sehr intime und innerpersönliche Handlungen, die kein großes Pathos benötigen. Das weiß Neumeier: „Bei aller Lebenserfahrung als Mensch und Choreograf, die ich mitbringe, strebt das Werk in gewisser Weise nach Ausdrucksformen für Naivität“.
Ist der Wunsch nach Frieden auch naiv? Kann Frieden aufkommen, solange es noch einzelne machtbesessene Egozentriker unter uns gibt? An diesen Frieden, der letztlich nur eine temporäre Abwesenheit von Krieg ist, zu glauben, ist zumindest ein gefährliches Spiel. Nun ist aber die unsere christliche Tradition nicht nur durch die griechische und lateinische Sprache und Denkweise geprägt, wie sie in der Messe verwendet werden. Ganz entscheidend steht das Christentum auf jüdischen Wurzeln, auf die Neumeier am Ende der h-Moll-Messe zurückgreift. Das lateinische Wort „pax“, das seinen Ursprung im Wort „pactum“ (Vertrag) hat, deutet auf einen Nicht-Krieg hin, der durch einen Vertrag besiegelt wurde. Das hebräische Wort „schalom“, das wir im Deutschen gern einfach mit „Frieden“ übersetzen, bedeutet mehr: Schalom meint einen Zustand einer heilen, unversehrten Welt, in der keine Gefahr droht. Es meint ein Miteinander aller Geschöpfe, Glück und Gerechtigkeit für alle. Es meint inneren Frieden und Versöhnung mit sich selbst, den anderen und Gott.
So läßt sich wohl der sudelige Menschenhaufen am Ende der Messe am ehesten verstehen. Aus ihm lösen sich nach und nach einzelne Wesen und nehmen in getragenen und ruhigen Schritten die gesamte Bühne in Besitz. Kein Tanz mehr, nur noch Schritte. Es herrschen Ruhe und Einvernehmen, Zugewandtheit und Frieden. Vielleicht ist es dieser „schalom“, der Neumeier einige Wochen vor der Premiere sagen läßt: „Es wäre mir am liebsten, ich könnte es unter einem Pseudonym veröffentlichen“. Ein Frieden, der nicht nach Rang und Namen fragt, sondern der einfach da ist und uns alle meint und einschließt.
Weitere Informationen und Aufführungstermine. Leider sind allerdings alle geplanten Aufführungen vollständig ausverkauft.