Als „sehr persönliches Stück“ bezeichnet Kerem Hillel, Student im Masterstudiengang Musiktheaterregie an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin, seine Abschlussarbeit „Three Steps Orfeo“. Am dritten Adventswochenende erfuhr diese „Kammerrockoper“ drei Aufführungen im TD (Theaterdiscounter) Berlin und führte dabei dem Publikum vor Augen, welche große Relevanz intelligent gemachtes, jenseits der großen Bühnen angesiedelte Theater für unsere Gegenwart haben kann.

Three Steps Orfeo. Promobild
Drei Schritte in die Hölle. Kerem Hillels „Three Steps Orfeo“ im TD Berlin
Gleich der Beginn macht deutlich, dass Kerem Hillel mit seinem Stück ganz bewusst den Bezug zur Operntradition sucht: Eine dreiköpfige Rockband (Meittam Gouvreen, Gitarre und Gesang; Paul Polster, Bass; David Gornsteyn, Schlagzeug) tritt auf, stellt sich in die hintere linke Ecke der Bühne und schmettert die Eröffnungs-Toccata von Claudio Monteverdis berühmter „favola in musica“ „L’Orfeo“ als hartes Riff in den Raum. Damit ist einer der Diskurse eröffnet, um die es hier geht: Das Theater fungiert als Erzählmaschine, die sich einer antiken Fabel bedient und sie mit unterschiedlichen künstlerischen Mitteln auskleidet, um damit eine Geschichte aus dem Heute zu erzählen. Der Beginn ist nicht die einzige musikalische Referenz, die im Laufe der rund 90 Minuten die Geschichte des Musiktheaters herbeizitiert, denn immer wieder klingen einzelne Fetzen oder Nummern aus Monteverdis Stück im Rock-Arrangement. Sie bilden gleichsam Anker, an denen man sich hörend entlangtasten kann, um im Sinn eines persönlichen Erkenntnisgewinns das Bühnengeschehen mit dem abgespeicherten Wissen in Einklang zu bringen.
Einverleibung des Orpheus-Mythos
Der Titel „Three Steps Orfeo“ verweist unmissverständlich darauf, dass sich Hillel den Orpheus-Mythos auch auf andere Weise einverleibt. Tatsächlich benutzt der in Berlin lebende Israeli den Mythos als Vehikel, um sich mit Fragen auseinanderzusetzen, die ihn seit dem 7. Oktober 2023 bewegen: Wie geht man in Deutschland mit dem Krieg in Israel um? Wie wird – auch in Anbetracht der deutschen Geschichte – in der Öffentlichkeit darüber gesprochen oder geschwiegen? Wie kann man über den Konflikt sprechen, ohne in simplifizierende Parolen zu verfallen und die Komplexität der Realität auszublenden? Wie kann der eigene moralische Kompass angesichts der vielen Toten und eskalierender Gewalt auf beiden Seiten überhaupt funktionieren?
Die Stärke von „Three Steps Orfeo“ liegt darin, dass keine fertigen Antworten formuliert, wohl aber – aus der Perspektive des ausgewanderten Künstlers Hillel – Wege zum differenzierten Nachdenken aufzeigt werden. Dies tut das Stück, indem es auf der Bühne drei in Bezug auf ihren Charakter sehr unterschiedliche deutsche Männer (die Schauspieler Bo Anderl, Adriano Henseler und Phillip Lehfeldt) zusammenführt. Unter Leitung einer Moderatorin (Schauspielerin Dafne-Maria Fiedler) nehmen sie an einem Workshop teil, der sich dem Umgang mit dem Krieg in Israel zu widmen verspricht.
Hierzu wird eine fiktive radikale Methode verwendet: In drei Schritten der mythischen Figur des Orpheus folgend, gehen die Männer in die Unterwelt und werden Teil eines Trauerprozesses, der die Verarbeitung persönlicher Traumata zum Ziel hat, um sich anschließend der Frage zu stellen: Drehe ich mich um und beende dies alles, um wieder nach draußen zu kommen?
Quer durch die Genres
Was bei alldem zur Sprache kommt, hat seine Wurzeln nicht nur in der Realität des Krieges, sondern auch in den Diskussionen, die während der Probenphase von „Three Steps Orfeo“ zwischen allen Beteiligten geführt wurden – mithin also im gesamten Theaterkollektiv. Episoden aus Thomas Borcherts Theaterstück „Draußen vor der Tür“ klingen dabei ebenso an wie aktuelle Ereignisse um den Verlust geliebter Menschen und ihr Widerhall in der Welt der Social Media. Den vielgestaltigen Auseinandersetzungen mit solchen Elementen entspricht, dass die Reise in die Workshop-Unterwelt mit dem Begriff „Kammerrockoper“ nur schwer fassbar ist und sich viel eher als Tour quer durch viele Genres erweist: Ausführliche Dialogpassagen rücken das Stück in die Nähe eines Singspiels, während fast jede der Gesangsnummern ein anderes Feld von Assoziationen öffnet: Einmal glänzen die drei Männer in Musicalmanier mit einer gemeinsamen Nummer, dann wieder gibt die Moderatorin in einem Chanson ihre eigenen Verstrickungen in Nichtwissen und Hoffnung preis, und immer wieder liefert die Rockband einzelne Songs oder geschickt eingesetzte instrumentale Grundierungen (Kompositionen von Meittam Govreen und Andrea Miazzon), die als klingender Rahmen zur Gliederung und Artikulation des szenischen Geschehens genutzt werden.
Die beachtlichen Leistungen aller Mitwirkenden tun ihr Übriges dazu, dass man am Ende das Gefühl hat, etwas Wichtiges erlebt zu haben, und zwar gleich in zweifacher Hinsicht: Einerseits ist man sensibilisiert für brennende Fragen unserer Zeit, die – man denke nur an den anhaltenden Krieg in der Ukraine – weit über den Konflikt in Israel hinausgehen und letzten Endes uns alle etwas angehen. Andererseits ist man aber auch Zeuge einer gelungenen Aufführung geworden, die exemplarisch vor Augen geführt hat, was jene angeblichen künstlerischen Nischen leisten können, die von den aktuellen Sparplänen des Berliner Senats akut in ihrer Existenz bedroht sind.
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