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Gaben die Eröffnung (v.li.): Hannah Kendall, Andile Khumalo, Vimbayi Kaziboni, Sergej Newski, Christina Daletska und Johannes Schöllhorn. Foto: Ben Knabe / WDR

Gaben die Eröffnung (v.li.): Hannah Kendall, Andile Khumalo, Vimbayi Kaziboni, Sergej Newski, Christina Daletska und Johannes Schöllhorn. Foto: Ben Knabe / WDR 

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Ehrenrettung im Niemandsland

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Zum Eröffnungskonzert „Musik der Zeit“ im großen Sendesaal des WDR in Köln
Vorspann / Teaser

Köln, im September – Auch im Auftaktkonzert zur neuen Saison Musik der Zeit im großen Sendesaal des West­deutschen Rundfunks setzte sich die Hausse an Orchesterwerken fort, ohne dass die Berechtigung dafür in jedem Fall erkennbar war. Die Bilanz des zweistündigen Abends mit je zwei deutschen Erstaufführungen und zwei Uraufführungen ernüchternd. Der forschende Geist, der mit dem, was mit neuer Musik einmal verbunden war, gänzlich verschwunden. An seiner Statt hat sich anderes ausgebreitet: Eklektizismus, Traditionalismus, Wiederholungszwang.

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Zugleich, als ob die herrschende Einfallslosigkeit camoufliert werden sollte, sind die Klangkörper zum Bersten aufgebläht; das Podium im Klaus-von-Bismarck-Saal voll, voll, voll. Was, ohne Frage, Punkte bei der Gema bringt. Nur eben nicht beim Publikum, in der Mehrzahl jedenfalls nicht. Werfen wir einen Blick auf die Details.

Wo geht’s denn hier nun bitte zum Neuen? Und: Ist das eigentlich eine gute Kategorie? Die Frage hat vor etlichen Jahren Joha­n­nes Schöllhorn gestellt. Anlässlich einer Neujahrs­an­sprache, ist er schluss­endlich darauf gekommen, dass es eigentlich keine gute Kategorie ist. Was durchaus überrascht, wenn das jemand sagt, der als Komponist und Kompositionslehrer ein Exponent der neuen Musik ist. „Wie Vieles ist auch das Denken der Neuen Musik paradox, denn es gehört zum anachronistischen Moment der Neuen Musik, dass sie ausgerechnet zutiefst romantisch ist. Der Sehnsuchtsgedanke, das Suchen nach dem Unerreichten und Unerreichbaren sitzt ganz tief in der Seele der Neuen Musik. Dazu gehören auch die Phasen der Selbstreflexion und Selbstzerlegung, zu denen man getrost auch die Postmoderne zählen kann.“ Wie als Echo auf seinen Neujahrsgruß hat Schöllhorn die Ensemblekomposition Niemandsland geschrieben. Jetzt durfte das 2009 entstandene Werk in runderneuerter Orchester-Fassung noch einmal zur Uraufführung kommen. Niemandsland? Das sei, so der Komponist im Vorgespräch auf dem Podium, jener unbewohn-, unbegehbare Streifen Land zwischen zwei Fronten. Man verstand sofort. Kriegsreportagen und Kinofilm haben uns mit Bildern davon geflutet. Das Problem: Von der Gefahrenzone war im nachfolgenden Orchester­werk nichts zu spüren. Dem anfänglichen, lautstarken Orchestertutti, was noch an Boulez’ „Pli selon Pli“ erinnerte, ließ Schöllhorn die Monochromie einer extrem gedehnten „Phase der Selbstreflexion und Selbstzerlegung“ folgen, eine Art Decrescendo XXL. Ereignisarm. Dahin­plätschernd. Länglich.

Die andere Uraufführung des Abends premierte als ein Auftragswerk von EBU Music Commissioning Scheme. Die bis in die Saison 2028/29 geplante Initiative europäischer Orchester, Chöre, Musikfestivals, Radiosender startete mit „The Light We Carry“, einem Werk, das Komponist Andile Khumalo im Programmheft als „klangliche Hommage an die stille Brillanz afrikanischer Kulturen“ anpries. Da damit niemand etwas anfangen konnte, versuchte es Moderator Philipp Quiring im Gespräch mit dem Komponisten auf die Holzhammermethode. Aufgerufen ward ein Kolonialismus-Kontext, kaum differenzierend, tendenziell platt. Das Problem dabei: Mit einem Mal stand, wie auch bei den anderen Moderationen, unvermittelt ein Erwartungshorizont im Raum. Prädisposition des Hörens. Eine Untugend, der künftige WDR-Musik-der-Zeit-Moderatoren tunlichst abschwören sollten. Was „Das Licht, das wir tragen“ anging, so entpuppte sich solches weniger als antikolonialistische Abwehrgeste, sondern, paradoxer­weise, als Verbeugung vor dem europäischen Orchestergedanken. Anders als der mittlerweile zum Standard gewordene durchlöcherte, rhythmisierte Orches­tersatz, arbeitete Khumalo mit dem großen Pinsel. Selten, dass die ausführenden Streicher des WDR Sinfonieorchesters so viele, noch dazu sanft schwingende Linien in den Klangraum zu stellen hatten.

Dann die beiden deutschen Erstaufführungen. Zunächst „He streches out the north over the void and hangs the earth on nothing“. Hannah Kendall, Engländerin, Jahrgang 1984, setzte entschieden auf Recycling, griff, materialschöpfend, munter hinein in Schumanns 2. Sinfonie, in Mozarts Jupiter-Sinfonie und war auch sonst nicht skrupulös im Bedienen, im Einspeisen von Wertigem. Haltung: Alles ist Material. Alles ist Steinbruch – für mich. Sogar das Buch Hiob aus der Hebräischen Bibel. Mit „Er spannt den Norden aus über dem Leeren und hängt die Erde über das Nichts“ (26,7) hatte Kendall den Titel ihres Stücks gefunden. Dass das alles irgendwie mit dem Urknall zusammenhängen sollte wie eine mäandernde Moderation mit der Komponistin nahelegte, verstand wiederum niemand und wurde auch durchs Hören nicht beglaubigt. Schöpfung geht anders. Schöpfung kommt von Schaffen, nicht von Zusammenstückeln mit Wah-Wah-Effekten, Harmonikas, gestörter Hiob-Rezitation via Lautsprecher, Spieluhren mit Mozarts „Ah! vous dirai-je, Maman! und, ja, Morgen kommt der Weihnachtsmann“. Finale Regieanweisung: „Remain motion­less until the music box stops“. Das war schon peinlich, wie ein ganzes Elite-Orchester einer Automatenmusik zuzulauschen hatte.

Wenn es einen Höhepunkt gab in dieser saisonalen Auftakt-Ausgabe von Musik der Zeit mit einem federnd durch die Partituren leitenden Vimbayi Kaziboni, dann war es der Beitrag des russischen, in Berlin lebenden Komponisten Sergej Newski. Unaspiriert in den Mitteln, atmete das Stück etwas vom rebellischen Geist der neuen Musik. Keine Tände­leien, keine Wieder­vorlage, schon gar keine Anleihen bei der Postmoderne. Stattdessen, soviel war spürbar, disziplinierte Form, Reduktion, Aufbau von Emotion als stete Temperaturerhöhung, also, auto­ma­tische Folge, Verdichtung. Mit „Göttin der Geschichte“ für Mezzosopran und Orchester war der Kunsternst zurück. Und zwar nicht erst dadurch, dass eine großartige ukrainische Solistin Chris­tina Daletska einem russischen, mit der Ukraine solidarischen Komponisten, fürs Stück dankte („eine Therapie“), und auch nicht dadurch, dass sie sich zum Schlussapplaus die ukrainische Nationalfahne umgeworfen hatte, um mit bewegten Worten ihre Erfahrungen als Sanitätshelferin mitzuteilen, um Spenden zu bitten „im Namen der Kriegsopfer“. Da war es wieder: Kriegs-Wirklichkeit trifft eine davon sich kaum berührt gebende Kunst-Blase. Unbehagen schwingt mit. – Das Werk selbst Vertonung eines 2022 entstan­denen Gedichts des litauischen Poeten Tomas Venclova. Fasziniert hat Newski daran die „Vielschichtigkeit der Perspektiven“, wenn Augenzeugen-Nähe übergleitet in den epischen Blick des Historiographen. In die Musik hat Newski einen Ton aus Sarkas­mus implementiert, korrespondierend zum Fatalismus der Worte. Auslöser die Niederlage auf dem Schlachtfeld Mariupol. Newski lässt Venclovas nicht unproblematischen Text durchs Fegefeuer seiner Komposition gehen, lässt Sopranistin Daletska die Vortrags-Perspek­tiven wechseln, lyrisch im Anruf der „Göttin“, die Konsonanten anreißend, wenn der Tod auftritt, und wenn, wie in einem Sog, mit dem Orchester ein Verzweiflungshöhepunkt erreicht wird. Der gesprochene Schluss ohne Nachspiel. Es bleibt die Bitternis.

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