Die Gattung des Requiems galt lange Zeit als transzendentale Ausdrucksform der westlich-christlichen Welt – meist als anlass- und personenbezogenes Werk komponiert. Doch nicht zuletzt mit Beginn der musikalischen Aufarbeitung beider Weltkriege im 20. Jahrhundert durchlebt auch die Gattung des musikalischen Totengedenkens einen fundamentalen Wandel.

Das „Requiem für Alice“ ist eine kunstpolitische Umdeutung der Gattung. Anstelle der traditionellen Form des Totengedenkens rückt als Fragment die musikalische Klage über eine Dystopie in den Vordergrund der Komposition mit Video. Videostill: Elia Rediger und Michael von zur Mühlen.
Eine Gattung im Wandel
Heute im Jahr 2025, achtzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, betrachten wir das Requiem als ein vielfältiges Symbol von Trauer- und Traumaverarbeitung und Klage. Die einst strengen, theologisch-liturgischen Vorgaben und formalen Aspekte dieser Trauer- und Todesmusik wichen im gesellschaftlichen Wandel stetig neuen Formaten und erscheinen heute häufig in fragmentarischer Form. Über seine traditionelle musikalische Dichte und seinen rituellen Ursprung des Totengedenkens hinaus, übernimmt das Requiem heute zunehmend auch neue gesellschaftspolitische Funktionen.
So entstanden innerhalb transkultureller Neudeutungen unterschiedlichste musikalische Perspektiven und Überschneidungsdimensionen: mal in Anlehnung an die ursprüngliche Form des Requiems, mal als abstraktere, zeitgeistliche Gedenkmusik oder Mahnmale. Auch wenn diese Werke heute noch häufig als „Requiem“ tituliert werden, thematisieren sie das Sujet des Abschiednehmens, der Trauerverarbeitung oder Klage auf musikalisch und kulturell anderslautende Weise. Wie kann es also klingen – das Requiem von heute? Zwischen Kriegen, politischen Krisen und kultureller Vielfalt beleuchten wir dazu vier verschiedene Ansätze, die mitunter weit über die ursprünglichen Strukturen des Requiems hinausgehen.
LUX PERPETUA: im interkulturellen Dialog mit dem Mozart-Requiem
Das asambura ensemble widmet sich in seiner musikalischen Arbeit interreligiösen und postmigrantischen Dialogperspektiven – es sucht und gestaltet Brücken zwischen dem, was zunächst unvereinbar scheint. Die Musikerinnen und Musiker aus unterschiedlicher Herkunft begegnen in transkulturellen musikalischen Ansätzen der ambivalenten Gleichzeitigkeit von Leben, Tod und Trauer, die uns Menschen als universelle, internalisierte Grunderfahrung (über sämtliche Grenzen) hinweg verbindet. Komponist Maximilian Guth initiierte mit dem Projekt „LUX PERPETUA“ eine Neuinterpretation und interreligiöse Erweiterung des musikalischen Fragments aus Wolfgang Amadeus Mozarts Requiem. Auf der Suche nach der Ausgestaltung des Bildes der Ewigkeit und im Angesicht der unendlichen Natur des Todes vereinen sich im Dialog mit dem Ursprungswerk nicht nur interreligiöse Ansätze der drei monotheistischen Religionen Judentum, Islam und Christentum, sondern es begegnen sich auch Klangfarben arabischer Musiktraditionen, die Repräsentation des Glaubens an die Wiedergeburt aus dem Hinduismus und Buddhismus oder Fragmente jüdischer Melodien. Zu je einem Originalfragment aus Mozarts Requiem entsteht eine Neukomposition. Als Neudeutung der klassischen Requiem-Struktur integriert Maximilian Guth zusätzlich zu Mozarts Originalbesetzung nahöstliche Instrumente wie die armenische Duduk, die syrisch-arabische Oud und die persisch-iranische Kamancheh. Somit verbinden sich interkulturelle Aspekte einer globalisierten, außereuropäischen Musiktradition mit zeitlosen Komponenten westlicher Musik. Zeitlos und ewig – so öffnet „LUX PERPETUA“ künstlerische Räume für das Beständige…oder das unaufhörlich Wiederkehrende?
POLYPontes: ein Requiem für Mahsa
Wie sehr aus der Identifikation mit dem Individuellen auch ein großer kollektiver Berührungspunkt entstehen kann, damit beschäftigt sich der Komponist Ehsan Ebrahimi in seinem Werk „POLYPontes: ein Requiem für Mahsa“. Eine tröstliche Verbundenheit entsteht durch das kollektive Erleben menschlichen Schmerzes in Einsamkeit, den er – angestoßen durch die Reaktionen auf die Revolution „Frauen, Leben, Freiheit“ im Iran – musikalisch auszuformulieren versucht. Dafür trifft klassische Musik Mitteleuropas auf traditionelle Volksmusik des Khorasan – einer heute dem Nordost-Iran zugerechneten Region, deren Jahrtausende alte Geschichte von immenser kultureller und religiöser Vielfalt zeugt.
Die Vertonung von individueller Einsamkeit – gezeichnet von Fremdheit, Entwurzelung, Trauer, (Heimat-)Verlust und Sehnsucht – findet musikalisch zunächst in Einzelsätzen Ausdruck und findet erst als Gesamtwerk Trost. Die Einzelsätze von POLYPontes wurden je einem von fünf Menschen gewidmet, die während der Revolution starben.
Für den Komponisten war es wichtig, über Verbindungen und Brücken, die Sprachlosigkeit über das Geschehene zu überwinden. „Mir ging es darum, eine aktive Form der Trauer zu beschreiben und eben nicht um das lähmende Gefühl von Resignation. Vielleicht kommt man dem einzelnen Schmerz so näher, weil (diese aktive Form der Trauer) sofort eine unglaublich starke Intention (zu handeln) mit sich bringt“, berichtet Ehsan Ebrahimi.
Und so verknüpfen sich die „poly pontes“, die vielen Brücken zu einem mehrdimensionalen Netz an musikalischen und menschlichen Verbindungen. Auf den Wegen über diese Brücken begegnen und berühren sich ursprüngliche Gegensätze – zwischen Vergangenheit und Gegenwart, traditionell persischer und europäischer Musik, zwischen akustischen Instrumenten und elektronischer Musik – hin zu der Gemeinsamkeit im unvermeidbaren Schmerz aller. Man könnte also sagen, dass „ POLYpontes: ein Requiem für Mahsa“ mit einer Friedensvision endet: von der Vereinzelung in die Verbindung.
„Never to forget“: ein lebendiges, musikalisches Denkmal von heute
Von der Aushandlung des Individualisierten in Requien-Kontexten zeugt auch ein anderes musikalisches Fragment. Die COVID-19-Pandemie forderte unzählige Menschenleben, insbesondere unter denjenigen, die an vorderster Front im Gesundheitswesen arbeiteten. Den Menschen, die im Dienst für andere in Großbritannien ihr Leben verloren, widmete der Komponist Howard Goodall ein sich stetig weiterentwickelndes, musikalisches Denkmal mit dem Titel „Never to forget“. Namen der Verstorbenen bilden den einzigen Text des Werks – eine erste Fassung umfasste zunächst 122 Namen und wurde mit voranschreitender Pandemie von Live-Aufführung zu Live-Aufführung auf zumindest 285 Namen erweitert.
In einzigartiger Manier steht der individuelle Mensch an der Quelle dieser Gedenkmusik: der Mensch selbst – unabhängig von Herkunft, Sprache, Religion oder Kulturkreis – wird zur Musik dieses musikalischen Totengedenkens und bildet darüber hinaus die Grundlage des musikalischen Materials. Anders als in traditionellen Requien liegt diesem Werk kein gesonderter Textbaustein zugrunde, sondern in prosodischer Vertonung bestimmt die natürliche Sprachmelodie der Namen aus den unterschiedlichsten Sprachräumen, bestimmt durch Betonung und Silbenstruktur den rhythmischen und melodischen Gestus.
Neben dem Chor kommen eine Harfe, eine Kammerorgel, Handglocken, Klavier und die Dilruba, ein indisches Streichinstrument, zum Einsatz. Ein Versuch, sich nicht auf eine musikalische Tradition festzulegen und gleichzeitig Bezug zu verschiedenen Herkünften der Verstorbenen zu nehmen. Es entsteht ein Klangbild, das auf unvergleichbare Weise die individuellen Verstorbenen in den Mittelpunkt stellt und in requiem-typischer Manier gleichzeitig Raum für kollektives Gedenken gibt. Für Goodall selbst war dieser Ansatz von hoher Bedeutung, sodass dieses Werk in seiner Unvollendetheit eine „lebendige“ Form des Gedenkens bleibt und nicht zu einem steinernen Denkmal wird.

„Mir ging es darum, eine aktive Form der Trauer zu beschreiben und eben nicht um das lähmende Gefühl von Resignation“ sagt Ehsan Ebrahimi über sein Stück „POLYPontes: ein Requiem für Mahsa“ Foto: Martin Czaske
Requiem für Alice: ein kunstpolitisches Projekt des PODIUM Festivals
Eine kunstpolitische Umdeutung der Requiemkultur nimmt Elia Rediger in seinem „Requiem für Alice“ vor, welches 2024 im Rahmen des Kunstprojekts „ATONAL FÜR DEUTSCHLAND“ von PODIUM Esslingen entstand. Im Mittelpunkt steht dabei die musikalische Dekonstruktion einer Bundestagsrede der Politikerin Alice Weidel. Gemeinsam mit Co-Regisseur Michael von zur Mühlen gestaltet er einen fiktiven Rückblick aus dem Jahr 2044 auf das politische Geschehen der heutigen Gegenwart. Auskomponiert und arrangiert für Streichquartett, Bassposaune, Gesang und Politikerin, als musikalisches „unreal-Avatar-Video“ mit einer 3D-Animation. Eine provokante Entscheidung, deren Risiken sich alle Beteiligten bewusst sind. Das musikalische Werk soll jedoch bewusst zur kritischen Auseinandersetzung mit aktuellen, politischen Geschehnissen anregen. Elia Rediger sagt dazu: „Dieses Werk ist für mich ein Blick in die digitale Glaskugel von 2044 und zeigt in welcher Verantwortung Kunst auch dem Alltäglichen immer den Zerrspiegel vorhält.“ Anstelle der traditionellen Form des Totengedenkens rückt als Fragment die musikalische Klage über eine Dystopie in den Vordergrund.
In welchen Formen erklingt es also heute – das Requiem und seine neuen Ansätze? Als Öffnung auf Grundlage bereits bestehender, traditioneller Werke (LUX PERPETUA), als musikalische Brücke zwischen kulturellen Musiktraditionen (POLYPontes), als Verschärfung und Neudeutung der typischen, personenbezogenen Widmung (Never to forget) oder als kunstpolitisches Mittel, das eine dystopische Reflexion über Politik und Zukunft entwirft (Requiem für Alice). Die Kultur des Trauerns reagiert auf gesellschaftliche Transformationen von Globalisierung, kultureller Verflechtung und politischer Geschehnisse. Sie reproduziert diese im Spiegel neuer Ritualformate und ritueller Fragmente. Äquivalent dazu entwickelt sich auch das Requiem.
Während es traditionell dem Totengedenken diente, spiegelt es heute – weitestgehend säkularisiert – vor allem gesellschaftliche Transformationen wider und entwickelte sich von einem großen Werk zur kollektiven Trauerverarbeitung und Hoffnungsinszenierung hin zu einem Medium zur Verarbeitung persönlichen Schmerzes, der nicht mehr zwangsläufig gebunden ist an postmortale Trauerriten und Totengedenken.
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