Die Vergangenheit ist nicht vergangen. In Dresden erst recht nicht. Einer uralten Freitagslegende wegen musste nun sogar die donnerstägliche Premiere des Musical-Klassikers „Cabaret“ auf 18 Uhr gelegt werden, um mit dem anschließenden Feiern ja kein frömmelndes Stillschweigen zu stören. Tanzen und Frohsinn verboten. Dabei steckt in diesem mahnenden, warnenden Broadway-Erfolg von John Kander (Musik) und Fred Ebb (Gesangstexte) zwar so einiges an hintersinnigem Witz, doch alles weit entfernt von dümmlicher Albernheit.

„Cabaret“ an der Staatsoperette Dresden. Marcus Günzel (Conférencier) und Ensemble. Foto: Lutz Michen
Eine Handvoll Silberlinge … – „Cabaret“ an der Staatsoperette: Ein Musical, das zu Tränen rührt.
Sächsische Landespolitik freilich retardiert und schwelgt in einer befremdlich peinlichen – Melange aus religiös-uradeligem Traditionskult. Ignoriert damit halt die Untaten sächsischer Vergangenheit, geht aber nicht ganz so weit wie das heilige Westfalen, wo zum katholisch verbrämten Freitagszauber sogar eine Opernpremiere untersagt wurde! Richard Wagners „Walküre“ entspreche „mit ihren Inhalten nicht den Prägungen des Karfreitags als Tag der Stille.“ Da schauen wir doch mal, ob die Nachrichtenlage an diesem 18. April 2025 derartigen „Prägungen“ entspricht.
Der durchaus berechtigte Premierenjubel an der Staatsoperette dürfte bis dahin jedenfalls ausgeklungen sein. Zumal er nicht ungeteilt war. Nachbarsleute im Parkett verweigerten jeglichen Beifall, andere Gäste etikettierten die Produktion gar als „peinlich“.
Musikalisch konnte sie, abgesehen von wenigen Ausrutschern, absolut überzeugen. Peter Christian Feigel leitete den knapp dreistündigen Abend recht souverän, mit reichlich Schmiss und gebotener Zurückhaltung in intimeren Szenen. Schauspieler Matthias Reichwald, seit dieser Spielzeit leitender Regisseur an der Staatsoperette, inszenierte den Klassiker in einem Einheitsbühnenbild von Karoly Risz auf (fast) permanent offener Bühne mit dennoch vielfältiger Raumwirkung. Die Szenen im Kit Kat Klub sind stimmungsvoll illuminiert, die Reise per Eisenbahn braucht lediglich ein wenig Gestühl, die Pension von Fräulein Schneider kommt mit etwas Mobiliar und einem immer mal wieder entrollten Teppich aus. Die einzelnen Zimmer und deren Mieter sind links und rechts der Bühne sortiert, es gibt keinerlei Abgrenzung, das macht die meist recht dynamische Abfolge der einzelnen Nummern schlüssig. Nini von Selzams Kostüme charakterisieren die Figuren treffsicher, jedenfalls bis zur Pause. Da auch viele Rollenwechsel auf offener Bühne stattfinden, bekommt die Produktion den erforderlichen und musikalisch vorgegebenen Schmiss.
„Der morgige Tag“
Zur Pause allerdings gibt’s eine jähe Zäsur. Bis dahin ist der US-amerikanische Möchtegern-Schriftsteller Clifford Bradshaw im Zwanziger-Jahre-Berlin gut angekommen, lebt mit dem Cabaret-Star Sally Bowles bei Fräulein Schneider, die von Herrn Schultz, einem jüdischen Obsthändler, schüchtern verehrt wird. Das Fräulein Kost finanziert die Mietzahlung mithilfe wechselnder Partner, als anfangs noch blasser Geschäftsmann organisiert ein Ernst Ludwig den politischen Wechsel im Land.
Und schon dräut „der morgige Tag“ herauf, überschattet jegliches Hoffen. Das erwartete Baby von Sally und Cliff sorgt für wachsende Zukunftsängste, die späte Verlobung von Fräulein Schneider gerät sogleich wieder ins Wanken, als Herr Schultz vorfreudig sein jüdisches „Miesnick“ anstimmt, dem als rüder Kontrast vaterländisch „Der morgige Tag ist mein“ folgt. Plötzlich ist Ludwig nicht mehr blass, sondern zum Führen bereit, sogleich stimmt Fräulein Kost in diesen Hymnus mit ein, und schon erheben sich nach und nach einzelne Leute im Publikum, um kräftig mitzusingen. Man will halt dazugehören. Keine ganz neue Idee, dieser Regieeinfall, aber einer, der zu Tränen rührt, erst recht, als sich dann noch ein paar Akkorde aus Franz Liszts „Les Préludes“ in den Germanenkult mischen. So bitter hat selten eine Pause begonnen.
Die Regie hat sich bewusst gegen Uniformen entschieden, die „Fliegenschiss“-Bewegung wird dennoch deutlich demaskiert. Im zweiten Akt gibt Ernst Ludwig forsch den Ton an, ist silbern gekleidet, wird von silbernen Blondinen umgeben, stürmt ans Mikrofon, stülpt sich ein silbernes Basecap auf den Kopf und reckt den rechten Arm im Stile eines Anstreichers aus Braunau beziehungsweise eines narzisstischen Autobauers mit Absatzschwierigkeiten.
Tragisch enden die so menschlichen Beziehungsversuche: Fräulein Schneider gibt Herrn Schultz einen Korb, da sie sich angesichts dieser „Zeitenwende“ keinen jüdischen Ehemann erlauben mag, und Sally Bowles kehrt in den Kit Kat Klub zurück. Sie kann sich ein Baby nicht leisten, hat einem teuren Arzt ihren Pelzmantel geopfert und kleidet sich nun ebenfalls silbern. Eine neue Zeit bricht an, die Vergangenheit ist nicht vergangen.

„Cabaret“ an der Staatsoperette Dresden. Aswintha Vermeulen (Sally Bowles) und Ensemble. Foto: Lutz Michen
Silberlinge aus dem Untergrund
Aswintha Vermeulen als Sally Bowles erweist sich als wildes Energiebündel mit Spielfreude und auch zarten Seiten, ihre Stimme steckt voller Soul, um vor den anderen Kit-Kat-Girls zu brillieren. Dabei müssen sich Kaya Loewe als umtriebiges Fräulein Kost sowie Nina Kemptner und Jeannette Oswald keineswegs verstecken. Silke Richter gibt eine lebenskluge Vermieterin mit vokaler Weisheit, während Bryan Rothfuss als spätverliebter Schultz der tragische Verlierer ist. Adrian Djokić als jungenhafter Clifford sowie Gero Wendorff als zunehmend beängstigender Ernst Ludwig entwickeln höchst unterschiedliche Charaktere und lassen ihre Figuren ins Konträre wachsen. Der Conférencier von Marcus Günzel mag zwar kein wirklicher Verführer sein, beherrscht Spiel und Stimme aber souverän – bis schließlich auch im Cabaret ein anderer Wind zu herrschen hat.
Dass die militant wirkenden Silberlinge (Ballett und Chor der Staatsoperette) aus dem Untergrund der Bühne emporkommen, würzt deren Präsenz zusätzlich. Die betörende Wirkung der Regie von Matthias Reichwald wird im Finale noch einmal kräftig geschärft, als das Ensemble hinterm Eisernen Vorhang verschwindet, wummernd dagegenklopft – ein Kriegsgetön mit Einsprengseln einer noch immer anrüchigen Hymne.
Weiterlesen mit nmz+
Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.
Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50
oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.
Ihr Account wird sofort freigeschaltet!