Hauptbild
Einfaches Motiv. ABSTRAKTER WALD. Foto: Hufner

Einfaches Motiv. ABSTRAKTER WALD. Foto: Hufner

Hauptrubrik
Banner Full-Size

Eine Stimme für den Regenwald – Heitor Villa-Lobos’ große Urwald-Kantate „Floresta do Amazonas“ am Staatstheater Mainz

Vorspann / Teaser

„Floresta do Amazonas“ („Der Wald des Amazonas“) heißt das letzte große Werk des brasilianischen Komponisten Heitor Villa-Lobos (1887-1959) aus dem Jahr 1958, eine Kantate für Sopran, Männerchor und großes Orchester. Im September erklang daraus in der Alten Oper Frankfurt eine von der Dirigentin Simone Menezes arrangierte Suite für Orchester mit Solosopran in Kombination mit Bildern des brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado – ein Programm, das Ende April auch beim Philharmonischen Orchester Heidelberg zu erleben sein wird. In Mainz hat das Philharmonische Staatsorchester unter GMD Hermann Bäumer gerade die 80-minütige Originalversion präsentiert. Sie sollte eigentlich die Filmmusik zu einem Hollywood-Spielfilm werden.

Publikationsdatum
Paragraphs
Text

Die Partitur, die Villa-Lobos für den 1959 veröffentlichten Film „Green Mansions“ geschrieben hatte, war ihm so wichtig, dass er sie nach der Ablehnung durch die Produktionsfirma Metro-Goldwyn-Mayer in den Konzertsaal hinüberretten wollte und sie dafür durch vier Sololieder für Sopran nach Gedichten der brasilianischen Autorin Dora Alencar Vasconcellos (1910–1973) ergänzte. Die (vermutliche) deutsche Erstaufführung nach 65 Jahren im Großen Haus des Mainzer Staatstheater verdankt das Stück der beharrlichen Suche des Mainzer GMDs und seines Orchesters nach Raritäten. Sie wurde schon 2018/19 vom Deutschen Musikverlegerverband mit dem Preis für das beste Saisonprogramm honoriert – offensichtlich ein Ansporn! Wie Hermann Bäumer beim Publikumsnachgespräch in der Kakadu-Bar des Staatstheaters erzählte, nutzte er den Corona-Lockdown zur systematischen Suche nach lohnenden Novitäten und Raritäten. So habe er sich nun in seiner letzten Mainzer Spielzeit einige „letzte Werke“ vorgenommen, vor kurzem erst Gustav Mahlers Neunte Sinfonie, jetzt eben „Floresta da Amazonas“. Darüber hinaus ist das Mainzer Orchester seit 2022 Mitglied der Nachhaltigkeitsinitiative „Orchester des Wandels e.V.“ und hat sich damit auch inhaltlich und konzeptionell zur Auseinandersetzung mit dem Klimawandel verpflichtet.

Warum Metro-Goldwyn-Mayer Villa-Lobos’ Partitur für „Green Mansions“ ablehnte und stattdessen den erfahrenen Filmkomponisten Bronisław Kaper mit einer Neufassung unter Verwendung von Villa-Lobos’ (sicherlich prestigeträchtiger) Musik beauftragte, ist eine interessante Frage. Hermann Bäumer vermutet, er habe die in Komponistenkreisen beliebte, aber in der Regel illusorische Hoffnung gehegt, das Drehbuch nach musikalischen Gesichtspunkten prägen zu können. Schlicht einen „Mangel an Erfahrung mit Filmmusik“ vermutet das Mainzer Programmheft. So wirklich plausibel erscheint das nicht. Als junger Musiker hatte Villa-Lobos sich schließlich selbst u.a. mit der Begleitung von Stummfilmen durchgeschlagen, und 1936 und 1942 war er an zwei Filmen des brasilianischen Regisseurs Humberto Mauros Film („O Descobrimento do Brasil“ und „Argila“) beteiligt. Im englischen Wikipedia-Artikel zum Film „Green Mansions“ finden sich zwei plausiblere Vermutungen: Villa-Lobos habe die Musik vor dem endgültigen Drehbuch fertiggestellt, und er habe sich nach der literarischen Vorlage, dem gleichnamigen Roman des argentinisch-britischen Schriftstellers und Naturforschers William Henry Hudson (1841-1922) aus dem Jahr 1904, gerichtet.

Romanvorlage oder Film, das macht tatsächlich einen Unterschied. MGM ließ die erfahrene Drehbuchautorin Dorothy Kingsley eine tragisch grundierte Urwald-Romanze schreiben, und Regisseur Mel Ferrer besetzte das Liebespaar mit den (weißen) Kultfiguren Audrey Hepburn und Anthony Perkins. In Hudsons Roman ist die Liebesgeschichte symbolisch und zivilisationskritisch aufgeladen: Der männliche Protagonist, ein gescheiterter Revolutionär namens Abel, flieht in den venezolanischen Dschungel und trifft dort auf einen Indianerstamm, der ihn aufnimmt und von einem geheimnisvollen und gefährlichen Dschungelmädchen berichtet. Abel, der den Bann nicht fürchtet, dringt in den Urwald ein und trifft auf die 17-jährige Rima. Sie ist die Überlebende eines von Banditen angerichteten Massakers, in der Natur aufgewachsen und mit Tieren und Pflanzen eng vertraut ist. Sie kann singen und trillern wie ein Vogel, hindert Fremde auf raffinierte Weise am Eindringen in ihr Revier und lehnt jegliche tierische Nahrung ab. Die sich über wachsendes Vertrauen anbahnende Liebesgeschichte endet tödlich: Die Indios verfolgen Rima, deren Bann gebrochen scheint, und legen Feuer an den Baum, auf den sie sich geflüchtet hat. Abel, der zu spät kommt und nur noch ihre Asche vorfindet, nimmt blutige Rache an den Indios – und trägt ein Leben lang an diesen Erfahrungen. Im Film, der ohnehin stärker auf Action-Szenen setzt, winkt ihm dagegen am Ende die Hoffnung, Rima könnte überlebt haben.

… dem Wald eine Stimme geben …

Der Roman „Green Mansions“ war im England der Jahrhundertwende ein Riesenerfolg, noch 1925 wurde zum Gedenken an Hudson im Londoner Hyde Park ein Rima-Relief errichtet. Eine deutsche Übersetzung von Klaus Weber erschien 1956 als „Rima. Die Geschichte einer Liebe aus dem Tropenwald“ und wurde 1996 als „Das Vogelmädchen. Eine Geschichte aus dem Tropenwald“ wiederveröffentlicht. In beiden Fällen verschiebt der Titel den Akzent auf die Gestalt der jungen Frauen. Hudson indessen ging es um das Beheimatet-Sein im Urwald, das er dem ausbeuterischen Umgang der Eindringlinge mit der Amazonas-Natur entgegenstellte. Natürlich gäbe die wörtliche Übersetzung, „Grüne Villen“, Anlass zu Missverständnissen; im Hinblick auf die dichten Baumkronen wäre vielleicht der Titel „Unter grünen Dächern“ denkbar. Der bei einem solchen Sujet leicht auftauchende Kitsch-Verdacht trifft übrigens weder den Romanautor noch den Komponisten. Beide kannten den Regenwald des Amazonas aus eigener Anschauung gründlich. Man könnte vermuten, dass es dem bereits schwer kranken Heitor Villa-Lobos vor allem darum ging, dem Wald eine Stimme zu geben.

Plausibel erscheint die Überlegung, der Komponist habe mit einem stark an der Romanvorlage orientierten Drehbuch gerechnet. Es gibt kein Sängerpaar und kein Liebesduett, und (mit Ausnahme der hinzukomponierten Lieder) wird das Sopransolo wie ein Instrument eingesetzt – ohne Text auf Vokalise, anfangs mit kleinen Motiven, die von verschiedenen Holzbläsern beantwortet werden, später dann auch mit etwas längeren Kantilenen, die über die übliche Dauer von Vogelstimmen hinausgehen. Über weitere Strecken steht das akustische Erleben des Waldes im Vordergrund; immer wieder glaubt man in Wiederholungen und Sequenzen ein quasi-impressionistisches Gewebe von Tierstimmen und Naturgeräuschen zu hören, – als ob der Wald zu sich selbst spräche. Scharf kontrastieren dagegen die zupackenden Gesänge des Männerchors (Tenor und Bass unisono oder im Oktavabstand in der indigenen Sprache Nheengatu) in der Ouvertüre und den beiden Sätzen „Tanz der Indios“ und „Kopfjäger“. Hier geht es offensichtlich um Aktion und Dramatik. Dazwischen finden sich mitunter melodiöse Instrumentalpassagen, als ob ein Mensch seinen Gefühlen wortlos freien Lauf ließe. Insgesamt aber überwiegt ein (Hollywood-ferner) Eindruck von Zeitlosigkeit und endloser Wiederkehr. (Was auch daran deutlich wird, dass Villa-Lobos in seiner eigenen Aufnahme durch entschlossene Striche auf knapp 48 statt 80 Minuten kam.)

Geradezu beängstigend naturalistisch wirkt die Darstellung der knisternden und fauchenden Flammen im vorletzten Satz „O Fogo na Floresta“, aus denen sich schließlich ein Rima-Motiv herausschält. Daran, dass die junge Frau wie im Roman ums Leben kommt, lässt der Epilog eigentlich keinen Zweifel: Unter die von den Streichern getragene Kantilene legen sich penetrante Bläserattacken, Trauer und Wut mischen sich – ein Zwiespalt, über den der Protagonist des Romans zeitlebens nicht hinwegkommt. Die dezente Video-Bebilderung der Bühnenhinterwand durch das Designstudio Neue Gestaltung Berlin mit sich langsam verändernden Landschaftsaufnahmen des Regenwaldes vermeidet erfreulicherweise filmtypische Klischees. Sie verrät aber auch nichts von der tragischen Zuspitzung der erzählten Geschichte. Gerade weil die Musik immer wieder durchaus bildhaft ist, wäre es hilfreich gewesen, dem Publikum zumindest einen groben Handlungsablauf an die Hand zu geben. Und ein wenig komisch wirkt es schon, wenn der musikalisch tadellos einstudierte Männerchor sich oben rechts auf der ansteigenden Bühne in aller Gelassenheit zu seinen adrenalingesättigten Gesängen versammelt.

Alexandra Samouilidou singt die Vogelrufe und wortlosen Kantilenen mit klarer, heller Stimme, die sich atmosphärisch angenehm abhebt vom Vibrato der Sopranistin Bidú Sayão auf Villa-Lobos’ eigener Tonaufnahme von 1959. Auch den stärker popularmusikalischen Ton der vier melancholischen Gesänge, die das Geschehen gewissermaßen von außen betrachten, trifft sie gut – nach anfänglich etwas undeutlicher Artikulation der Konsonanten, die durch den Rollenwechsel bedingt sein dürfte. Villa-Lobos setzt hier zum Teil eine solistische Gitarre ein und nutzt das Orchester sehr dezent als farbige Grundierung. Beeindruckend ist, mit welcher Verve und Präzision zugleich sich die Musikerinnen und Musiker des Philharmonischen Staatsorchesters in die Musik hineinwerfen. Da gibt es gewaltige Tutti und spannenden Klangkombinationen (auch mit Klavier, Celesta und Harfe), glanzvolle Soli für Instrumente und Instrumentengruppen (einschließlich Vibrafon und Marimbafon) aber auch heikle Übergänge und Überblendungen – etwa, wenn das tiefe Blech eine rasante Streicherpassage von den Geigen übernimmt. Immer wieder kombiniert Villa-Lobos binäre und ternäre Rhythmen – hinter- und übereinander, oft auch noch zugespitzt durch Synkopen – bis dahin, dass man an einer Stelle versucht ist zu glauben, jedes Soloinstrument spiele nur für sich allein. Doch Hermann Bäumer am Pult hält alles souverän zusammen, und das Publikum folgt dem Geschehen mit bemerkenswerter Konzentration.

Auch nach dem Konzert geht es noch einmal um Nachhaltigkeit. An einem Stand beim Ausgang informieren zwei Vertreterinnen des Orchesters, darunter eine Praktikantin aus der Mainzer Partnerstadt Valencia, über den Verein „Orchester des Wandels“. Sie sammeln Spenden für die Initiative „Musik für Valencia“, die sich um Hilfe für die dortigen Hochwasser-Opfer bemüht, und sie verkaufen „Orchesterschokolade“ zum Preis von 5 Euro pro Tafel. Das ist teuer, aber William H. Hudson und Heitor Villa-Lobos hätten sich über den sanften Umgang mit der Natur gefreut. Zweimal im Jahr werden die Kakaobohnen mit einem Segelschiff aus der Dominikanischen Republik nach Amsterdam gebracht und dort in einer solarbetriebenen Fabrik zu Schokolade verarbeitet, die dann per Lastenfahrrad zu den beteiligten Theatern und Konzerthäusern gelangt. Ein Heimtransport per E-Bike wie im Fall des Berichterstatters wirkt da schon fast wie ein Stilbruch.

Ort