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Foto: Phile Deprez
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En avant, marche! – Ein den Alltag sprengendes Ereignis in Frankfurt

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Es gibt sie noch, die emphatisch, die empathisch packenden, sich und andere durchdringenden Ereignisse; diese Erlebnisse, die sich in Stadt, in Land, in Haus und Hof, in Theater wie Hallenkultur wahrhaft ereignen, diejenigen also, die eine junge, eine mittlere, eine angejahrte Generation jeweils im einzelnen und auch in Gruppen übergreifender, durchaus dynamischer Kraft packen und mitreißen und im Urteil vereinen …

Theatralische Einzigartigkeiten, die ohne all die erhobenen Zeigefinger des egomanischen Regietheaters den Tiefgang einer Handlung unmittel-bar begreifbar, ergreifbar, verstehbar werden lassen. Das leisten, was einem antiken Theater und seinen Folgen über Jahrhunderte hin als aufklärerisches Bühnengeschehen eingeschrieben geblieben ist. Frank-furt am Main bot solches dieser Tage mal wieder. Die Stadt, deren Image zuweilen von vermeintlichen Besserwissern mit Bankfurt oder Krankfurt gar nach unten gedimmt werden soll. Vergessen wird inmitten solch angestrengter Machenschaften gern, dass nicht erst seit der Zeit von Harry Buckwitz dort Musiktheater und Sprechtheater und alle daraus sich entwickelnden Spielarten von Zeitgeist prägender Bühnen-Intensität eine Heimstatt hatten und haben, die überörtlich ausstrahlt.

Nicht nur zu Zeiten, als dort weiland Wieland Wagner den Wozzeck machte und Pierre Boulez ihn dirigierte und Anja Silja und Gerd Nienstedt eine Realität imaginierten, die einen seelengeläutert das Haus verlassen ließ. Angesichts und im auratischen Wirkkreis des Wesens einer Frankfurter Schule, die, repräsentiert durch das legendäre Dreigestirn Adorno, Mitscherlich, Horkheimer, den Mittelgang des Opernhauses (an)gemessenen Schrittes durchmaß...

Produktionen solch geistiger Strahlkraft ermöglichte und erlebte die Stadt öfters. Nicht nur als herausragende Stadt mit dem bemerkenswerten Mut zu radikaler Veränderung nach radikaler Zerstörung als Folge des zweiten Weltkriegs. Nationale und internationale Preisungen unterstreichen das immer wieder aufs neue. In dieser Zeit, die durch militante Grausamkeiten nicht nur im weiteren Mittelmeerraum sondern auch in den Weiten von Mitteleuropa sich brutalstmöglich ausbreitender Gewalt ausgesetzt sieht, die ihrerseits der Tiefe des Denkens und der Klarheit emotionalen Verstehens neue räumliche Dimensionen eröffnet, kam en passant gewissermaßen Alain Platel vorbei mit einer wundervollen Produktion in vielen Sprachen, erschaffen zusammen mit Frank van Laecke und dem musikalischen Kopf Steven Prengels, getragen von les ballets C de la B mit NTGent und dem fulminanten dreißigköpfigen Musikverein Ludwigsburg-Oßweil e.V./Stadtkapelle Ludwigsburg. Das war ein echtes, ein den Alltag sprengendes Ereignis, musikalisch, tänzerisch, darstellerisch, als theatrale Aktion und als nachdenkenswürdige geistige Handlung gleichermaßen im Blaskapellenappeal vom allerfeinsten, virtuos, melodiös, atonal, blechbläser-symphonisch und sprach-wie-sprechtechnisch fulminant.

Körperklänge wie Sitzmöbel als Rhythmus grundierendes Material instrumentalisierend. In einer fast ans Geniale reichenden Collage grüßt es von Wagner bis Verdi, von Mahler über Schubert bis JSB, Elgar, Balkan-Traditionals und Gustav Holst. Vom wirklichen Leben handelnd, nicht von dem der Dinge und Sachen im gehobenen Luxus-Segment. So voller Melancholie und Anteilnahme an der Geschichte und am Geschick des an Kehlkopfkrebs finalisierenden Protagonisten, der angesichts beachtlicher Körperfülle kaum fortbewegungsfähig erscheint und dann herumturnt auf Bühnenbrettern und Treppenhäusern und zwischen Stühlen und Musikern und phänomenalen Tänzern leicht wie eine Feder, körpervirtuos bis zum geht nicht mehr, das fasziniert.

En avant, marche! heißt das Ganze. Und unter der Anleitung des belgischen Starchoreographen Alain Platel (u.a. auch schon an den Kammerspielen München tätig während der Intendanz von Johan Simons) gelang dem Künstlerhaus Mousonturm zusammen mit dem kooperierenden Schauspiel Frankfurt ein höchst explosives, ein existenzielles Drama um skurrile Charakterköpfe mit klanglichem und musikalischem und gedanklichem Tiefgang der Sonderklasse – in aller Lockerheit und Witzigkeit und Beweglichkeit, mit allem Zauber, der auch gelingendem Zirkus immanent sein mag. Mit all dem Humor, all der Melancholie, all der Gedankentiefe und handwerklich hochstehenden Profi-Attitüde. Selten, dass in diesen Tagen Hallen der Hochkunst in dem Bewusstsein verlassen werden, voller Lebensfreude zu sein. Hatte denn solches nicht schon das antike Theater im Sinn und im Angebot?

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